Die Grauen in Louisas Landschaft
Kennen Sie einen Remote Viewing-Roman? Nein? Warum nicht? Lesen denn Remote Viewer keine Romane? Gewiss, es gibt eine Menge Leute, die nach eigener Aussage nichts als Fachbücher lesen, denen jede narrative Zeile ein echtes Grauen ist.
Vielleicht werden Sie mit Recht einwenden, dass die Mehrzahl dieser Leute Bücher lesen, in denen zwar nicht das Grauen, wohl aber die Grauen vorkommen (wenn auch in der Verbindung mit "klein"), und das wäre doch wohl auch die reinste Science Fiction und schon lange kein Sachbuch mehr. Nun, dem kann man entgegenkommen.
Nehmen wir einfach ein Buch, in dem Remote Viewing vorkommt, in dem merkwürdige Personen ihr Unwesen treiben, Schwarze, Graue und sogar Halbe ... und in dem viel davon verarbeitet ist, was Remote Viewer zu diesem Thema in Sessions gesagt haben. Und weil man selbst als Sachbuchleser auch mitten drin im Leben steht, sind alle diese Informationen mit Personen verknüpft, die damit fertig werden müssen. Vielleicht werden Sie die dann auch etwas mögen.
Karen, die ihr ganzes Leben unglücklich war, weil sie mehr konnte als andere. Robert, der einen verzweifelten Kampf gegen die führt, die er entdeckt hat und in erster Linie Louisa, die nie genau weiß, wer sie ist. In monatlichen Fortsetzungen können Sie sich mit ihnen befreunden. Vielleicht auch mit den anderen Mitwirkenden, ob es sie nun gibt oder nicht. Da weiß man ja nie genau Bescheid. Oder sind Sie wirklich sicher, dass es den amerikanischen Präsidenten wirklich gibt? Haben Sie ihn schon einmal angefasst? Tja, so ist das mit der Realität. Hier nun das erste Kapitel:
ÜBER DIE SEE.
1. Kapitel: Über die See
Der Schmerz überfiel sie mit einer derartigen Heftigkeit, daß sie augenblicklich einknickte und in den Sessel fiel. Ihre Hände versuchten verzweifelt, das Messer zu umfassen, das sich in ihren Oberbauch gebohrt hatte und sie langsam nach oben aufschnitt. Aber es gab natürlich kein Messer. Es waren beides nur Reflexe, der Schmerz und der Versuch, sich zu wehren.
Obwohl der Raum sich plötzlich ins millionenfache ausgedehnt zu haben schien, vernahm sie die Stimme des Nachrichtensprechers klar und deutlich. Auch die Bilder der Verkehrsmaschine, oder jedenfalls von dem, was von ihr übriggeblieben war, standen mit unnatürlicher Schärfe direkt vor ihr mitten im Raum. Es war ihr unmöglich, die Hände vor das Gesicht zu schlagen; und es hätte die Bilder auch nicht verscheucht.
Als Louisa heute Morgen in den Tag hineingefühlt hatte, so, wie sie es jeden Tag tat, war da dieser schwarze Fleck gewesen. Normalerweise konnte sie ziemlich genau bestimmen, was der Tag ihr bringen würde. Freude, Ärger, Begegnungen, gute oder weniger gute Aufregungen, alles lag in gewissen Grenzen übersichtlich vor ihr und darauf hatte sie auch immer gebaut.
Aber heute war dieser schwarze Fleck dagewesen, der höhnisch und auf häßlichste Weise ihre innere Landschaft beschmutzt hatte. Und dessen Inhalt ihr unergründlich war. Jetzt war er da, sie stand mitten darin und sie fühlte, wie seine Schwärze langsam um sie herum aufstieg und über ihr zusammenschlug.
Wie war das gewesen, heute Vormittag, als sie ihre Eltern zum Flugplatz brachte? „Lou“, hatte ihr Vater gesagt, (ihre Mutter nannte sie immer Lisa, wirklich komisch!) „Lou, meine Liebe, du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Nächste Woche sind wir wieder da und dann haben wir wahrscheinlich etwas sehr Interessantes zu erzählen oder wir haben es sowieso zu den Akten gelegt. Dann ist erst mal Ruhe. Dann können wir uns auch um deine Wohnung kümmern. Nur noch ein ganz klein wenig Geduld.“
Und Lou und Lisa hatten beide das sichere Gefühl, daß ihre Eltern nicht fliegen sollten, jedenfalls nicht heute. Aber wie hätte sie ihnen die Sache mit dem schwarzen Fleck auf der Tageslandschaft erklären sollen? Louisa fühlte ein leises Kribbeln an den unteren Halswirbeln, als ihre Eltern hinter der Abfertigung verschwanden.
Der Brief der Fluggesellschaft, der zwei Tage später im Briefkasten steckte, fühlte sich eisig an. Louisa hatte die Zeit wie in einer Art Koma verbracht; mechanisch handelnd, erfüllt von völliger Leere. Da waren Telefongespräche gewesen, Versicherungsgesellschaften, Anwälte, Freunde, aber auch Frühstück, Mittagessen und Abendbrot. All das war mit ihr passiert, aber sie konnte sich nicht erinnern. Eine Zeitung lag auf dem Tisch, ungelesen. Sie mußte sie irgendwann gekauft haben.
Ihre Finger waren halb erfroren, als sie die Wohnungstür wieder schloß. Sie riß den Umschlag auf und erwartete fast, daß er sich in Eissplitter auflöste. Aber er blieb Papier, und der Brief war kurz und hart. Natürlich bedauerte man diesen Absturz. Alles würde getan werden. (Was war „alles“?) Die Hinterbliebenen sollten sich des Mitgefühls versichert sehen.
Die Kälte zwischen ihren Fingern verhöhnte die Worte, aber sie fuhr in ihre neue, noch unfertige Wohnung, um ihren Koffer zu holen. Hinterher wunderte sie sich, daß sie tatsächlich alles eingepackt hatte, was sie brauchte. Louisas Flug zu der Trauerfeier entführte sie noch am selben Abend und Lisa spürte wenigstens bei der einen Stewardeß das ehrliche Bemühen, ihr etwas beizustehen. Lou war und blieb apathisch während jeder einzelnen Minute der langen vierzehn Stunden, bis die Maschine auf dem Kennedy- Flugplatz in New York ausrollte.
Wenn es noch etwas Gutes gab, dann war es die Befreiung von der üblichen Abfertigung. Sie war sozusagen VIP und brauchte nicht die unsäglichen Fragen der Immigrationsbehörde über sich ergehen lassen.. „Was wollen Sie hier? Haben sie hier Freunde? Wo wohnen Sie?“, alle diese unfreundlichen Angrabungen galten nur jenen, denen gegenüber man kein Schuldgefühl hatte. Auch das Hotel war bestellt und das Yellow Cab, und von ihrem Zimmer konnte sie sogar beides sehen, das Empire State und das Trade Center. Es mußte ein teures Zimmer sein. Der Telefonhörer lag daneben und sie nahm an, daß sie selbst das getan hatte.
Als sie in der Kirche wieder zu sich kam, nahm sie erstaunt wahr, wie wenig Menschen zugegen waren. In der Maschine hatten sich über 200 Personen befunden. Da konnte man das Doppelte an Teilnehmern erwarten, oder etwa nicht? Waren die gut hundert Anwesenden die, die tatsächlich trauerten? Oder waren es die, die die ganze Prozedur noch aushielten? Oder waren sie gar von der Fluggesellschaft bestellt, weil sonst zu wenig gekommen wären? Waren auch Offizielle zugegen? Die Orgel setzte vollmundig ein, es klang unerträglich aufgesetzt, aber so klang es eigentlich immer in der Kirche. Louisa sah sich vorsichtig um.
Nicht alle der Anwesenden waren aufmerksam dabei. Jedenfalls nicht mit der Aufmerksamkeit bei der Musikeinlage. Und manche schienen aus ganz anderen Gründen hier zu sein. Louisa bemerkte rundherum verstreut ein gutes Dutzend Männer, deren Interesse das anwesende Publikum selbst war. Einer, nein zwei sahen genau zu ihr herüber. Sie senkte die Augen. Sie meinen tatsächlich dich, erkannte Lisa und fühlte kurzzeitig nach, um sofort erschrocken wieder in sich zu kehren. Was wollten die von ihr? Es fühlte sich gefährlich an und es hing mit diesem schwarzen Fleck zusammen, der merkwürdigerweise immer noch präsent war, in einiger Entfernung, aber nicht kleiner und auch nicht blasser. Louisa bemerkte erstaunt, daß sie ihre Landschaft wieder ausrollen konnte. Die Büsche in der Nähe sahen verkümmert aus, aber das schien ihr so klar, wie sie immer ihre Wahrnehmungen erklären konnte. Weiter weg war es etwas heller, größere Bäume wuchsen am Wegesrand und sie hatte das sichere Gefühl, daß dahinter jemand auf sie wartete. Einer? Sie prüfte kurz. Nein, mehrere. Komisch, dachte sie, so klar habe ich es noch nie gesehen. Sie sondierte noch einmal den Geruch der Informationen. Es waren zwei Parteien. Mindestens. Und mindestens eine roch überhaupt nicht gut.
Lou und Lisa schraken zurück, und als Louisa wieder aufschaute, waren die Blicke dieser beiden Männer dort drüben noch immer auf sie gerichtet. Louisa massierte sich das Genick.
Nach dem Schlußchoral ließ sie sich auf den Ausgang zutreiben. Die meisten Leute hatten es eilig, die Kirche zu verlassen; eine von diesen neuen, betonarmierten Architektenambitionen, die auch dadurch nicht feierlicher wurden, daß man ihnen buntes Glas in die Augenhöhlen preßte. Ein blauer Lichtstrahl stand für Sekunden auf dem Kopf des einen Mannes, der sie die ganze Zeit über beobachtet hatte. Sie sah hoch. Es mußte ein sonniger Tag draußen sein. Als sie einen Schritt weiter war, fiel das Licht durch ein grünes Butzenfenster. Der Mann sah krank aus, irgendwie schimmelig, und sie konnte ihn riechen, obwohl er mindestens fünf Meter entfernt stand. Er roch genauso grün wie dieses verweste Licht. Lou bemerkte, daß dieser Eindruck irgendwie nicht stimmte, aber andersherum, konnte man grün riechen? Lisa versuchte, neu zu sortieren, aber da überschüttete sie der Tag bereits mit seinem Überfluß an Helligkeit. Louisa stand zögernd auf der obersten Stufe der Freitreppe, die zur Straße führte. Ein älterer Mann näherte sich ihr, sehr gepflegt, ruhig aber nicht bedächtig. Eher mit Bedacht.
„Miß Lohmann?“
Louisa schrak zusammen und starrte den Mann einen Moment verständnislos an, denn er sprach ihren Namen natürlich nicht wie ein Deutscher aus. Er sagte so etwas wie „Lowman“, obwohl er sich sichtlich bemühte, korrekt zu sein. Louisa nickte schließlich.
„Ich bin Vertreter der Fluggesellschaft. Darf ich Ihnen auch mein persönliches Mitgefühl aussprechen.“ („Mietgefuul“ sagte er und Louisa fragte sich, warum sie das so ärgerte.) “Wir hatten bisher nicht den Eindruck, Sie mit den Formalitäten belästigen zu können. Unser Empfangsbeauftragter sagte uns, Sie hätten erhebliche traumatisierte Reaktionen gezeigt.“ (Louisa konnte sich nicht mehr an einen „Empfangsbeauftragten“ erinnern) „Wie fühlen Sie sich jetzt? Meinen Sie, daß wir Sie nachher in unserem Büro erwarten können. Und möglicherweise benötigen wir Sie auch, um Ihre Eltern zu identifizieren. Fühlen Sie sich dazu in der Lage?“
In Louisa schrie es auf. Mama! Papa! Sie fühlte sich plötzlich wieder sehr klein, wollte hilfesuchend die Arme nach oben strecken. Lisa suchte das Gefühl der Mutter, aber da war nichts, es war weg, einfach weg. Leer, allein, Niemand...
Der grauhaarige Mann mit den aufmerksamen Augen musterte sie eine Weile, wie sie so dastand und versuchte, ihre Fassung nicht wieder zu verlieren.
„Sie können sich gern noch etwas zurückziehen und frisch machen“, sagte er in die Leere hinein. „Wir schicken Ihnen ein Taxi, wenn sie dann möchten.“
„Nein“, Lisa fühlte, wie ihre Kraft zurückkehrte. Tatsächlich plötzlich zurückkehrte, wie ein Fluß, der seinen Staudamm überwunden hat. „Ich möchte sofort mitkommen“, sagte Lou und Louisa richtete sich auf.
„Wie sie wünschen.“ Der Mann nickte ihr professionell besorgt zu. “Wir können meinen Wagen nehmen. Er steht nicht sehr weit.“
Er drehte sich um und ging voran. Am Auto angekommen, bemerkte Louisa, wie auch die beiden Männer aus der Kirche in einen Wagen stiegen. Sie sahen nicht herüber. Wenigstens jetzt nicht. Die Tür schlug zu und Louisa wurde abgelenkt.
„Wie bitte?“, fragte sie und wandte sich dem Vertreter der Fluggesellschaft zu.
„Wir haben das Gepäck Ihrer Eltern sichergestellt. Wenn Sie wünschen, können wir es Ihnen sofort aushändigen. Es ist noch in einem guten Zustand, da es nicht in der gleichen Maschine war. Ein Verteilungsproblem, das öfter auftritt. Dafür war ein Teil des Gepäcks des vorigen Fluges in der Unglücksmaschine. Das gibt eine Menge Mehrarbeit für uns.“
Das ist mir doch so egal, dachte Louisa, aber er versucht, mich abzulenken. Das Gepäck...Was soll ich damit? Hat es einen Erinnerungswert? Die Kleider von Mutter würde sie doch nicht tragen. Vielleicht wichtige Papiere? Louisa fiel ein, daß sie nichts, rein gar nichts über den Hintergrund des Fluges ihrer Eltern wußte. Vielleicht gab es im Gepäck etwas, das ihr Aufschluß darüber geben konnte. Vielleicht.
„Können Sie das Gepäck wieder nach Hamburg fliegen und in die Wohnung meiner Eltern bringen lassen? Ich habe keine Ahnung, wie ich es jetzt von Ihrer Ausgabestelle oder was Sie da betreiben, wegtragen soll.“
„Selbstverständlich. Kein Problem. Das ist doch das Geringste, was wir für Sie tun können.“
Tatsächlich. Ihre Kraft kehrte zurück. Ein bißchen war es so, als sei es nicht ganz ihre eigene, aber was machte das. Es war so nötig. Louisa hob die Schultern und streckte die Beine. Sie atmete tief ein und wieder aus.
„Gibt es schon Neues über die Ursache? Warum die Maschine plötzlich abstürzte? Alles, an das ich mich erinnern kann, war, daß eine Explosion stattfand. Man war sich nicht sicher, ob es ein technischer Defekt oder eine Bombe gewesen ist.“
„Zur Zeit geht man verstärkt von der Möglichkeit aus, daß eine Bombe explodiert sei. Das wäre natürlich fatal.“ Der Mann blickte kurz in den Rückspiegel, erstarrte für einen Moment, was die Falten seines Gesichts wie auf einem Foto schärfer erscheinen ließ, dann entspannte er sich wieder.
„Aber es gibt kein Bekennerschreiben oder sonst etwas. Nun befindet sich eine Bombe auch meist im Gepäck oder in anderer Zuladung, also im Laderaum. Die Explosion fand jedoch an anderer Stelle statt, soviel wissen wir bereits. Und dort ist kein Laderaum. Dort sind nur Tanks. Eine Bombe müßte dann von jemand placiert werden, der die Maschine wartet, oder sonstwie zum Personal gehört. Das ist relativ unwahrscheinlich. Aber warum sollte ein Tank explodieren, einfach so?“
„Vielleicht weil Benzin eben auch mal explodieren kann?“ Louisa zuckte die Schultern. Es erschreckte sie, wie durch die Banalität der Worte das Ereignis zu einer Zeitungsmeldung verkam. Und daß sie dieses unwürdige Spiel mitspielte.
Gleichzeitig wußte sie, daß das nicht alles war. Es schien ihr plötzlich, daß die Ursache des Absturzes für sie von enormer Wichtigkeit war. Bombe oder technischer Fehler, hallte es in ihr nach. Lisa spürte einen kalten Schatten. Da war eine dritte Möglichkeit, ganz kurz, ganz unscharf, wie von weit her.
„Vielleicht ist die Maschine auch abgeschossen worden?“
Der Mann blickte kurz herüber und seine Gesichtsmuskeln entzogen sich für einen Moment seiner Kontrolle. Dann konzentrierte er sich wieder auf die Straße.
„Ich bitte Sie, wer soll denn das tun, so nahe bei New York, schon in der Dreimeilenzone? Da gibt es die Küstenwache und die NAVY, das geht nicht so einfach. Dazu braucht man schon ein größeres Schiff, und das bleibt nicht unbemerkt. Wer sollte das tun können? Und daß wir unsere Flugzeuge selbst abschießen, wird uns hoffentlich keiner unterstellen.“
- Warum sagt er das, fragte sich Louisa und wollte zufassen. Aber die Information verschwand blitzschnell wie eine Kakerlake in der Dielenspalte.
„Ich würde doch gern einen Blick auf das Gepäck meiner Eltern werfen“, sagte Lisa, einem plötzlichen Impuls folgend. „Vielleicht enthält es Wertgegenstände. Und vielleicht geht es auf der Rückreise verloren. Man weiß ja nie.“
„Wie Sie wünschen. Gern. Ich wünschte, ich könnte mehr für Sie tun.“
- Er meint das tatsächlich, dachte Lisa überrascht, unter der Kruste der Verordnungen, Durchführungsbestimmungen und Direktiven meint er es ehrlich. Er bedauert die Umstände. Er bedauert, daß er diesen Job machen muß.
Louisa bemerkte, wie der Mann sie plötzlich scharf ansah. Hastig und verwirrt zog sich Lisa zurück, selbst erstaunt über die Vorgänge.
Der Wagen hielt vor einer Stahlglasfront. Lousia legte den Kopf in den Nacken. Das spiegelnde Schachbrett der Fassade verschwand irgendwo in der weißdurchwebten Bläue des frühen Nachmittags. Sie kratzen tatsächlich an den Wolken, dachte sie in kindlicher Überraschung.
„Wir müssen ein wenig laufen“, sagte der Mann entschuldigend, als sie die Eingangssektion der Drehtür betraten. „Die Sondernutzungsräume sind etwas abgelegen.“
Sie verließen die Drehtür und er dirigierte sie in einen nach rechts führenden Gang. Louisa warf einen Blick zurück in die Eingangshalle. Die kühle, selbstherrliche Innenarchitektur lächelte überheblich zurück. Louisa schauderte und rieb sich den Nacken. Warum kribbelt es dort immer, dachte sie, eine Nervenstörung? Dann bemerkte sie die beiden Männer, die an etwas, das eine Rezeption sein konnte, standen und nicht herüberblickten. Lisa versuchte plötzlich, sich so klein wie möglich zu machen. Fast ein wenig hastig drängte sie sich durch die Glastür, die sich vor ihnen viel zu zögerlich öffnete.- Sie suchen dich, dachte Lisa. - Quatsch, meinte Lou, - was soll das, weshalb denn.
Sie mußten tatsächlich eine Weile laufen. Eine halbe Treppe, ein Fahrstuhl, plötzlich wurde der Baustil anders. Das Gebäude, in dem sie sich jetzt befanden, wirkte erheblich älter als die Glasfassade, durch die sie eingetreten waren.
Sie haben einen Neubau an die Front gesetzt, dachte Louisa, und manchmal bleibt hinten der alte Bau stehen. Jeder sein eigener Potemkin.
Auch die Beleuchtung änderte sich. War es die etwas altmodische Bauweise der Leuchtstoffröhren oder ihre korrekte Ausrichtung in der Mitte der Decke, das diesen langen Flur so abweisend zweckbestimmt machte?
Louisa fühlte sich mit der Hilflosigkeit einer Karteikarte durch den Gang geschoben.
„Hier ist es, einen Moment bitte.“ Ihr grauhaariger Begleiter tippte eine Zahlenkombination in ein Tastenfeld. Erst jetzt bemerkte sie, daß es einige technische Aufrüstungen in diesem Altbau gegeben hatte.
Die Tür öffnete sich automatisch und sie traten ein. Die hohen, sonst kahlen Räume waren mit Regalen zugestellt. Einige schienen eilig zusätzlich montiert zu sein, gerade soviel Platz lassend, daß Menschen mit dem Inhalt der Regale hindurch konnten. Aber diese überbordende Fülle an Koffern, Taschen und anderen Fracht- und Gepäckstücken stand überall hervor. Louisa gelang es nicht, ihren Metallecken und Ledersäumen auszuweichen, als sie sich durch mehrere Räume hindurch kämpften. Es war, als griffen all diese Dinge nach ihr.
„Das Büro ist an der anderen Seite des Lagers, sagte ihr Begleiter, und es klang wie echtes Bedauern. „ Wir hätten sonst außen um den ganzen Komplex herumgehen müssen.“
Louisa nickte und stieß in diesem Moment an einen weit herausragenden Schrankkoffer, ein wirkliches Ungetüm. Im Moment der Berührung zuckte Lisa zusammen. Die Kinder! Mein Gott, es waren drei Kinder gewesen. Sie sah all die kleinen Hosen und Hemden und Kleider und Blusen in dem Koffer, die Söckchen und Sandalen, deren Eigentümer vielleicht nie aus ihrem stählernen Sarg geborgen werden würden. Ein blondes Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt, und zwei Jungen, nur wenige Jahre älter. Sie hatten fröhlich herumgealbert, als es passierte. „Gleich landen wir!“ Lisa hörte den Knall, roch Kerosin und verbranntes Plastik und fühlte den entsetzlichen Schlag. Die Dunkelheit, die Schreie, dann die Stille! Der Boden senkte sich vor ihr. Louisa stolperte. Fast ging ihre neue, brüchige Selbstbeherrschung verloren. Der Mann faßte sie mit einem schnellen Griff am Arm und hinter der nächsten Ecke lag glücklicherweise das Büro.
Als wäre sie schon angemeldet, standen an der einzigen freien Wand die Koffer, die sie so gut kannte. Wieder sprangen sie Einzelheiten an, Louisa kämpfte. Lisa verkroch sich in ihren hintersten Winkel, während Lou den Koffer ihrer Mutter öffnete. Alle diese bekannten Sachen! Zu jedem Kleidungsstück fiel ihr ein Anlaß ein, zu dem Mutter es getragen hatte. Louisa zog ihre Hand aus der Wäsche zurück und klappte den Koffer zu. Wonach suchte sie eigentlich?
Vaters Koffer. Das komplizierte Systemschloß, das er ihr einmal erklärt hatte, als sie sich das teure Stück ausleihen mußte. Der Mann mit den grauen Haaren und den grauen Augen sah ihr ruhig zu, wie sie mit unsicheren Fingern, aber trotzdem geübt, den Deckel öffnete.
Der Ordner lag obenauf. Es war eine dicke Mappe voller Schriftstücke, Dokumente, Abhandlungen, Zeichnungen, Listen und Tabellen. Louisa hatte keine Ahnung, worum es inhaltlich ging, aber Lisa war sicher, daß sie gefunden hatte, was sie suchte. Sie schloß den Koffer und klemmte die Mappe unter den Arm.
„Would you please sign here, on this line? “
Louisa schrak auf und nahm erst jetzt den korrekt gekleideten Mann hinter dem niedrigen Tresen wahr, der ihr ein Formular entgegenhielt. Wenige Minuten später stand sie wieder auf der Straße. Der Verkehr umspülte sie wie einen Stein im Bachbett, und genau so fühlte sie sich: wie ein Stein. Aber trotz dieser Verhärtung in ihrem Innern verspürte sie die Gefahr. Sie sah sich um. Nein, nichts in ihrer Nähe, aber es war weiter vorhanden.
Fortsetzung folgt im nächsten Monat