letztes Update: 02.04.2024

Die Grauen in Louisas Landschaft

Kennen Sie einen Remote Viewing-Roman? Nein? Warum nicht? Lesen denn Remote Viewer keine Romane? Gewiss, es gibt eine Menge Leute, die nach eigener Aussage nichts als Fachbücher lesen, denen jede narrative Zeile ein echtes Grauen ist.
Vielleicht werden Sie mit Recht einwenden, dass die Mehrzahl dieser Leute Bücher lesen, in denen zwar nicht das Grauen, wohl aber die Grauen vorkommen (wenn auch in der Verbindung mit "klein"), und das wäre doch wohl auch die reinste Science Fiction und schon lange kein Sachbuch mehr. Nun, dem kann man entgegenkommen.
Nehmen wir einfach ein Buch, in dem Remote Viewing vorkommt, in dem merkwürdige Personen ihr Unwesen treiben, Schwarze, Graue und sogar Halbe ... und in dem viel davon verarbeitet ist, was Remote Viewer zu diesem Thema in Sessions gesagt haben. Und weil man selbst als Sachbuchleser auch mitten drin im Leben steht, sind alle diese Informationen mit Personen verknüpft, die damit fertig werden müssen. Vielleicht werden Sie die dann auch etwas mögen.
Karen, die ihr ganzes Leben unglücklich war, weil sie mehr konnte als andere. Robert, der einen verzweifelten Kampf gegen die führt, die er entdeckt hat und in erster Linie Louisa, die nie genau weiß, wer sie ist. In monatlichen Fortsetzungen können Sie sich mit ihnen befreunden. Vielleicht auch mit den anderen Mitwirkenden, ob es sie nun gibt oder nicht. Da weiß man ja nie genau Bescheid. Oder sind Sie wirklich sicher, dass es den amerikanischen Präsidenten wirklich gibt? Haben Sie ihn schon einmal angefasst? Tja, so ist das mit der Realität. Hier nun das dritte Kapitel:

3. IN DAS GEHEIMNIS

Louisa sah an sich herab. Natürlich hatte sie sich nicht die Zeit zum Umziehen genommen, so gern sie es nach der Kletterei in diesem Hinterhof getan hätte. Lisa hatte zur Eile gemahnt. Die beiden Männer würden zwar eine gewisse Zeit brauchen, um auch in Louisas Wohnung zu gelangen, aber es gab Wichtigeres, diese Zeit zu füllen.
Die beiden sorgfältig gepackten Koffer standen jetzt rechts und links von ihren abgeschrammten, putzverstaubten Schuhen. Louisa hob die Hand und klingelte. Karen war eine der wenigen Möglichkeiten, die nächsten Tage zu überstehen. Einerseits weil sie noch immer ihre beste Freundin war, andererseits, hoffte Louisa, sei sie zurzeit erreichbar.
Ja, meldete sich Lisa. Sie ist jetzt zu Haus.
Sie würde Karen ins Vertrauen ziehen müssen, zu einem Teil jedenfalls. Es war abzuwägen, wieviel, aber ihre Geschichte würde sich nahe an der Wahrheit bewegen müssen. Karen hatte ein gutes Gedächtnis. Früher, in ihrer Schulzeit, war ihr das in mehrfacher Hinsicht zu Gute gekommen. Zum einen natürlich in Prüfungen, ohne Frage, aber auch, wenn man ihr Geschichten erzählte, um irgendetwas zu entschuldigen. Sie merkte sich jede Einzelheit und ließ besonders die Jungen sich später hoffnungslos in den Details ihrer erfundenen Alibis verwickeln. War sie vielleicht deshalb allein geblieben?
Dummkopf, schalt Lisa, du hast doch selbst nie lange einen Freund gehabt. Auch sie hatte sie alle durchschaut. Unbedeutende Spaziergänger in ihrer Landschaft, die bald wieder daraus verschwanden. Ihre Wünsche waren zu einfach, ihre Lebensziele zu langweilig. Ihre Persönlichkeit so eindimensional. Louisa verlor nach kurzer Zeit die Lust an jedem von ihnen.
Sie kommt, bemerkte Lisa und einen Augenblick später öffnete sich die Tür.

„Louisa! Schön, daß du kommst. Wie geht es dir? Zu Hause sicher nicht sehr gut.“ Sie hatte einen langen Blick auf die Koffer geworfen. „Komm herein. Der Kaffee ist gleich durch. Ich habe sowieso etwas mehr aufgesetzt. Komisch, nicht? Nun komm schon!“
Karen war wie immer, lächelnd und aufgeräumt, mit sicheren Schritten und einem kräftigen Griff. Sie räumte die Koffer energisch in den Flur und schob Louisa voran in die Küche.
„Hast du Hunger?“
Louisa war es, als wachte sie auf. Wie, als hätte man einen Schalter in ihr umgelegt. Sie spürte plötzlich jeden Teil ihres Körpers mit einer ungewohnten Intensität. Und mitten darin ein Alarmsignal. Tatsächlich, darum hatte sie sich lange nicht gekümmert. War da ein Brötchen gewesen, irgendwann, ein Burger im Vorübergehen oder sonst ein Restbestand in der elterlichen Küche? Die Information entzog sich ihr, niedergewalzt von einem unglaublichen Gefühl der Leere mitten in ihrem Leib.
„Ja, genau so sieht du auch aus.“ Karen faßte ihren Arm, drückte sie auf einen Stuhl und ließ ihre Hand noch einen Moment auf Louisa Schulter. Sie schaute ihr einen Moment in die Augen. Lou zuckte zusammen. So hatte sie Karen noch nie wahrgenommen.
- Hast du es nie bemerkt, meldete sich Lisa. - Sie ist auch nicht allein. Dachtest du, wir sind einzigartig? Aber sie kann es gut verbergen.
- Wie macht sie das? fragte sich Lou und eine plötzliche Heiterkeit huschte wie in leises Klingeln durch ihre inneren Räume.
- Anders, meinte Lisa. -Jeder Mensch ist anders. Und sie ist sehr anders.
- Wie anders? Lou schaute Karen offen ins Gesicht, mit einer kindlichen Neugier, als sähe sie ihre alte Freundin zum ersten Mal.
- Sie kann vieles. Zum Beispiel defekte, innere Muster reparieren. Sie tut es in diesem Moment. Dazu gehört ein besonderes Gedächtnis. Sie muß alles aufnehmen, vergleichen und ausbessern. Diese persönlichen Muster sind sehr komplex. Man benötigt sehr viel schnellen Speicherplatz, so ungefähr hier.
Lou empfand eine Lokalisation in der oberen rechten Hälfte ihres Kopfes.
Ich kann diese Bereiche bei uns leider nicht aktivieren, schloß Lisa ihre Ausführungen.
Louisa spürte eine plötzliche Wärme von ihren Füßen her aufsteigen, die sich rasch bis zu Karens Hand ausbreitete. Darauf hin löste diese den Kontakt und drehte sich zum Kühlschrank um.
„Ich habe noch etwas, Moment, ich mache es gleich warm.“ Sie hantierte mit Töpfen, Tellern und deren Inhalten herum und Louisa wurde sich der irrealen Kürze und Direktheit aller Abläufe, seit sie Karens Wohnung betreten hatte, bewußt.
Warum sollte sie unnütz Zeit verlieren? meinte Lisa. Die Situation ist doch klar.
Lou mußte dem zustimmen. Sie bemerkte, wie wohl sie sich plötzlich fühlte, entspannt und ruhig. Und unglaublich hungrig.
„Sie kommen nicht hierher.“ Karen schaute kurz über die Schulter. „Wer immer das ist, du scheinst dir etwas Nettes eingebrockt zu haben. Sehr unangenehme Leute.“
„Und sie riechen so furchtbar.“ Louisa schüttelte sich. „Besonders der eine. Mir wurde richtig schlecht.“
„Ja, unsere archaischen synergetischen Verknüpfungen. Wie im normalen Leben: Reize in einem Sinnesorgan lösen plötzlich einen anderen aus. Ein Ton ist hell, ein Geschmack ist grün. Und was wir so empfangen, fühlt sich auch gleich richtig an. Wahrscheinlich, weil wir in der Realität sonst nicht damit umgehen könnten. Ich habe mal ein Referat darüber gehalten, sehr akademisch, mit richtig guten Fremdworten, bin dann aber krank geworden und konnte es nicht mehr halten, weil das Semester zu Ende war. Lustig, nicht?“ Karen kicherte in sich hinein. „Aber wahrscheinlich hatte ich sowieso das Thema verfehlt. Es ging um Unbewußtes, nicht um PSI, was der Professor damals sowieso für Humbug hielt. Aber ich wollte es unbedingt beweisen. Wie man sieht, ist das verhindert worden. Und jetzt los, erzähle. Alles kann ich nicht einfangen, und reden ist gemütlicher.“ Karens Worte hallten in Louisa nach. Reden ist gemütlicher! Was sollten sie sonst tun?
- Das wissen wir doch, schalt Lisa. - Und reden ist auch höflicher. Man kramt nicht ungefragt in anderen Leuten herum. Das schickt sich nicht. Wir tun das auch nicht.
- Ach, wirklich? fragte sich Lou, -wir tun das nicht? Gut, daß ich das schon merke.
„Du kannst die Kammer haben“, unterbrach Karen ihren inneren Disput, „es ist zwar sehr eng und du mußt aus dem Koffer leben, aber dafür ist es sicher. Wenigstens für eine Zeit. Und dann... das wird schon. Und jetzt bitte, deine Geschichte!“
Louisa erzählte und kaute, schluckte und erzählte. Es war schön, alles von sich zu reden, den Schrecken der letzten Tage. Karen lauschte aufmerksam und nippte an ihrer Tasse Kaffee. Louisa wunderte sich. Obwohl sie Erlebnisse erzählte, die ihre Grundfesten erschüttert hatten, verlor sie nicht die Fassung. Sie weinte nicht, die Stimme versagte nicht, sie stockte nicht. Es war im Moment schrecklich, noch einmal alles zu erleben, aber sie verlor nicht ihre Fassung. Sie fühlte sich warm und geborgen und wie in Sicherheit.
„Ja, das stimmt“, sagte Karen in diesem Moment „Du bist hier wirklich sicher. Jedenfalls eine ganze Weile. Ich habe dafür gesorgt.“
Ihre Stimme drang merkwürdig entfernt, wie von sehr weit draußen an Louisas Ohr. Sicherheit. Geborgenheit. Sich irgendwo festhalten. Hier.
Louisa tauchte auf. Wie aus einem See, dessen Wasser über ihrem Kopf zusammengeschlagen waren, tauchte sie auf und atmete tief ein. Die Luft war wie neu, als hätte sie lange nicht gewußt, wie es sich anfühlt, zu sein, sich und die Umgebung zu erleben, fühlen zu dürfen. Sie richtete sich auf. Ihr Blick schweifte durch den Raum, über die Herdplatten, den geöffneten Geschirrschrank, die Küchenutensilien, die kleine Unordnung für eine zubereitete Mahlzeit. Und eine Pinnwand.
Louisa mußte lächeln, als es ihr bewußt wurde. Karen hatte eine Pinnwand. Es war so widersinnig, daß Karen etwas brauchte, um sich zu erinnern. Karen wußte alles, was einmal passiert war, wie die Leute ausgesehen hatten, mit denen sie einmal zusammen war, alle Situationen und Orte. Louisa hatte es immer als absurd angesehen, wenn sie Karen besuchte, daß Karen eine Pinnwand hatte. Aber sie hatte sie nie darauf angesprochen. Jetzt verstand sie.
Natürlich hatte Karen ein photographisches Gedächtnis. Natürlich wußte sie mehr als die meisten anderen Leute. Natürlich brauchte sie nichts, um sich an etwas zu erinnern. Aber eine Pinnwand war schön. Sie spiegelte das Leben wieder. Sie lebte selbst, in gewisser Weise. Sie verankerte den Betrachter im Leben. Louisa genoß es, wieder dorthin zurückzukehren. Es war nicht so, wie es vorher gewesen war, vor diesem häßlichen schwarzen Fleck auf ihrer Landschaft, aber sie betrat wieder festen Grund.

Ja, dachte sie, reden ist gemütlicher. Ein Küchentisch muß aus Holz sein und mit der Pinnwand bildet man das Leben ab. Louisa hielt inne. Und ich? fragte sie sich. Ich hätte gern den schönen Kronleuchter in meiner Wohnung hängen gesehen.
„Die Pinnwand  erfüllt übrigens noch einen anderen Zweck.“ Karens Stimme tauchte wie aus dem Nichts auf und holte Louisa an den Küchentisch zurück.
„Man gibt der Zukunft eine Vorlage, nach der sie sich richten kann.“
„Was?“
„Du hast doch eben über Sinn und Schönheit meiner Pinnwand nachgedacht!“
„Äh, ja, ich hätte  nicht gedacht, daß du ...“
„Ich weiß. Normalerweise heftet man an, was man nicht vergessen will. Das brauche ich nicht. Ich weiß, daß Du das weißt. Nein, die Pinnwand hat einen anderen Sinn: ich hefte an, was ich mir wünsche, was sich entwickeln, was in Erfüllung gehen soll. Es ist einfacher, es so zu tun. Eine Unterstützung, wenn Du so willst. Wenn ich dann mehrmals täglich daran vorbei gehe, wenn mein Blick drüber streift, nehme ich den Faden wieder auf.“
„Den Faden?“
„Vom Garnknäuel des Schicksals. Du weißt schon, was ich meine. Um dann meine Zukunft zu stricken. Ein schönes Bild, findest Du nicht?“
„Du meinst... Du kannst Deine Zukunft beeinflussen, Dir etwas Beliebiges wünschen, und dann geht das in Erfüllung?“
„So ähnlich.“ Karen lächelte leise. „Jedenfalls vieles. Nicht alles geht in Erfüllung. Andere Leute wünschen schließlich auch. Und wenn dann Wunsch gegen Wunsch steht...“
„Das ist ja gruselig. Ich hab nie so was gemacht.“
„Doch, doch. Natürlich hast Du das auch getan. Nicht absichtlich und bewußt, und deshalb auch viel zu selten. Aber Du hast es getan. Weißt Du noch, Frank...?“
„Uh, der! Das war doch nichts! Das konnte doch nichts werden!“
„Ja, aber das hast Du erst hinterher gemerkt. Als Du ihn näher kennengelernt hast. Aber erst hast Du nicht darüber nachgedacht, ob er zu Dir paßt, sondern einfach losgewünscht.“
„Aber er war nicht dagegen!“
„Nein, natürlich nicht. Er wußte noch weniger von diesen Möglichkeiten. Er war ein richtiger Feind eines jeden Gedankens an Übersinnliches. Er war Dir hilflos ausgeliefert. Deshalb flog er dann auch auf Dich!“
Louisa schüttelte sich. „Brr... ja, das war ein Fehler.“
„Und Du warst überhaupt nicht nett zu ihm, als er dich immer weiter anhimmelte.“
„Warum auch? Ich hatte ihn ja nicht gerufen...  naja, glaubte ich damals jedenfalls... ich wollte einfach einen...“
„Siehst Du, so geht es oft. Viel Menschen erleben solche Geschichten. Wenn sie darum wüßten, würden sie sich vielleicht manchmal etwas zurückhalten.“
„Das hast Du ja ganz besonders getan. Schon immer... Nein, ich meine jetzt nicht... Du hast das schon früher so betrachtet?“
„Ich bin recht schnell dahinter gekommen. Es hat mir viel erspart, glaube ich.“
„Erspart... hm. So kann man es auch nennen.“ Louisa wurde plötzlich bewußt, wie sie sich von ihrem eigentlichen Thema entfernt hatten. Fast war sie dankbar dafür, obwohl sie sicherlich schnell eine Lösung finden mußte. Sie wußte nichts über die Möglichkeiten ihrer Verfolger. Sicher würden sie nicht aufgeben, ihre Beute einfach so ziehen lassen. Dazu hatten sie zuviel Aufwand getrieben. Es ging offensichtlich um alles. Vielleicht hatten sie sie schon aufgespürt, jetzt, in diesem Moment!

Louisa schauderte, Karen legte ihr die Hand auf die Schulter. Wieder dieses Gefühl der Wärme, dieses leise Kribbeln.
„Entspann´ Dich erst einmal. Ich habe einen Block für sie gesetzt. Ich hoffe sehr, daß ich ihn hochhalten kann, daß er auch für solche Leute funktioniert. Da fehlt mir einfach die Erfahrung. Ich habe so etwas nur für neugierige Jungen verwendet, früher, auf der Schule. Es gab einige, die man begabt nennen könnte. Das war manchmal nicht einfach, aber zu diesen Typen, die hinter Dir her sind, ist das sicher kein Vergleich. Ich habe mich nie mit ihnen beschäftigt. Ich weiß, daß da draußen einiges vor sich geht, was den Menschen auf der Erde keine Freude bereiten wird. Und wenn ich draußen sage, meine ich wirklich draußen. Vielleicht komme ich davon, dachte ich, wenn ich mich zurückziehe...“
„Und jetzt bringe ich sie dir ins Haus...“
„Mach Dir keine Gedanken darum. Ich fürchte, früher oder später wäre sowieso etwas passiert. Vielleicht, daß sie mich entdeckt hätten, oder daß ich aus anderem Grund hätte hervortreten müssen. Man kann diese Leute nicht einfach wegwünschen. Es ist ein größeres Problem. Davonlaufen hat keinen Sinn, weil es kein Wohin gibt.“

Louisa hatte wieder das Gefühl, als täte sich der Boden unter ihr auf und sie rutschte, immer schneller werdend, in ein furchtbares dunkles Loch. Sie schüttelte sich vor Grauen und schnell war wieder Karens Hand da. Louisas Panik ebbte ab.
„Entschuldige, ich wollte Dich nicht weiter beunruhigen. Wir schaffen das schon. Im Moment scheint ja alles zu funktionieren. Es gibt keinen Anlaß zur Besorgnis, glaube mir. Sie suchen, aber sie haben keinen Anhaltspunkt. Ich will sie nur nicht dauernd beobachten, das wäre zu kühn, zu gefährlich, zu..."
„Du weißt so viel. Wie kommt das? Erzähle mir davon. Was ist los, da draußen? Vielleicht, wenn ich mehr weiß, habe ich weniger Angst...“
„Vielleicht. Ich denke, du solltest jetzt erst einmal schlafen. Egal, was passiert, Du wirst Deine Kräfte brauchen. Schlaf ist immer noch das einfachste Mittel, wieder auf die Beine zu kommen.“
War es Karens Stimme, die Wärme ihrer Hand oder die plötzliche Einsicht in die zurückliegenden Strapazen, Louisa war mit einem Mal erfüllt von Schwere, Wärme und wohliger Müdigkeit. Sie sah nicht, wie Karen lächelte. Ihre Augenlider wurden schwerer und schwerer. Kaum bemerkte sie, wie sie mit der Hilfe ihrer Freundin aufstand, die wenigen Schritte zu dem Bett ging, das Karen für sie gemacht hatte und hinsank, endlich gelöst und  befreit. Sie glitt hinweg in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Am nächsten Morgen, oder sollte man besser: Vormittag sagen, saßen sie beim Frühstück zusammen. Karen erzählte, daß sie gestern noch eine Freundin angerufen habe, um mit ihr den Dienstplan zu tauschen. Sie machte das manchmal, überließ anderen ihre Schicht, die es nötiger hatten. Karen arbeitete als Akquisiteurin für eine größere Werbefirma. Man hätte sagen können, daß sie sehr erfolgreich war, wenn man gewußt hätte, daß sie sehr wenig dafür tat. Erst machte sie Kontakte vom Telefon aus, dann besuchte sie selbst die Kunden, erledigte schnell die Formalitäten und verbrachte schöne Nachmittage in der Stadt. Für die anderen war sie lange unterwegs, eifrig, geschäftig. Leider  hatte sie keinen Führerschein. So hätte sie noch ins Land hinausfahren können, in die Holsteinische Schweiz, zum Plöner See oder an die Ostsee.

Louisa stellte fest, daß sie sich im Moment überraschend gut fühlte, viel besser als  in den letzten Tagen. Lag es an der warmen Sommersonne, die zum Fenster hereinleuchtete? Sie war richtig fröhlich, schwatzte mit ihrer Freundin, sie steckten die Köpfe zusammen, giggelten fast wie früher in ihrer Schulzeit. Sie wußte, daß irgendwo etwas Schreckliches auf sie lauerte, aber das schien weit entfernt. Es war, als hätte sie Psychopharmaka geschluckt, diese Fröhlichseinpillen, Aufheller für trübe Stimmungen. Aber sie wußte gleichzeitig, daß das nicht stimmte und auch Karen ihr auf keinen Fall heimlich so etwas zugeführt hatte. Das brauchte sie auch nicht.
- Genau, meldete sich eine ebenfalls frisch klingende Lisa, sie macht es anders. Sie führt Energie zu. Erinnerst du dich, gestern?
Louisa beschloß, mehr darüber zu erfahren. Es schien ihr die wichtigste Tätigkeit, die ein Mensch ausführen konnte: Muster reparieren, Menschen wieder auf die Beine zu helfen, aus Qual und Düsternis herauszuhelfen, sie zu einer aktiv erreichbaren Auffassung von Glück zu bringen. Ohne Pillen. Aber auch ohne Zwangsjacken, Gummizellen und Gehirnwäsche.
Sie fühlte sich in sich selbst gestärkt. Das war das Geheimnis.

Karen riß sie -schon wieder- aus ihren Überlegungen.
„Trotzdem müssen wir uns jetzt etwas einfallen lassen. Das Leben geht weiter. Und ich kann auch nicht dafür garantieren, dass mein Schirm ewig hält.“
Da war er wieder, ganz klein nur, aber er machte sich bemerkbar, der Klumpen in Louisas Magen. Was hatte sie eigentlich gedacht, wie es weitergehen sollte? Nein, sie hatte gar nichts gedacht. Sie war in einem Moor aus Angst versunken; verzweifelt strampelnd hatte sie einen einsamen Ast erreicht, sich auf eine kleine, feste Insel gezogen, aber um sie herum blieb weiterhin die trügerische, heimtückisch begehbar erscheinende Sumpflandschaft.
Doch plötzlich kam sie wieder, die Wärme, die von ihrer Schulter aus durch ihren Körper floss. Karen stand hinter ihr.
„Entschuldige. Ich war zu schnell. Du brauchst als erstes einmal etwas Sicherheit. So lange wird es schon gehen. Aber wir können doch überlegen, was man tun sollte. Hast du alles aus deiner Wohnung geholt? Papiere, Geld, wichtige persönliche Sachen? Was passiert mit deiner Post?“
„Ich bekomme eigentlich keine.“  Jedenfalls keine wichtige, dachte sie weiter. Aber dann richtete sie sich auf. Ihr Auto! Der kleine, rote Wagen, auf den sie so sehnsüchtig gewartet hatte. Er sollte doch schon längst … Vielleicht war eine Benachrichtigung im Briefkasten.

Karen schüttelte den Kopf.
„Nein, deshalb gehst du nicht nach Hause. Wir müssen das Glück nicht herausfordern. Du rufst den Händler an. Und dann holen wir ihn ab.“
Louisa öffnete einen ihrer Koffer. Obenauf, einen dicken Packen von Papieren krönend, lag ihr Notizbuch. Hastig griff sie danach. Karen stellte ein altmodisches Telefon mit Wählscheibe auf den Küchentisch. Lou sah sie erstaunt an.
„Ja, siehst du“, sagte Karen lächelnd. „Das funktioniert auch noch. Und ich habe auch kein Handy, falls du mich das fragen wolltest. Eigentlich brauche ich es für meinen Beruf, aber ich kann es nicht ertragen. Es macht mich ganz wirr im Kopf. Manche Leute sagen, das sei die Trägerwelle. Was es auch ist, ich ertrage es nicht.“
Unbeholfen begann Louisa die Wählscheibe zu drehen. Ohne Display konnte man nie genau sagen, ob man sich nicht verwählt hatte. Wie war denn das früher? Louisa versuchte sich zu erinnern, als eine Stimme im Hörer sagte: „Autohaus Petersen, Verkaufsabteilung, was können wir für Sie tun?“
Zwei Stunden später saßen Karen und Louisa in einem leuchtendroten Kleinwagen und rollten auf die Straße. Nach einer weiteren Stunde konnten sie die Tageskennzeichen wieder abgeben und überlegten, ob es sinnvoll wäre, noch einmal in einer der Wohnungen vorbeizuschauen.
„Wir können doch vorsichtig Ausschau halten, ob dort noch jemand ist, und dann könnte ich doch …“ versuchte Lou zaghaft ihren Wunsch vorzubringen.
„Du wirst gar nichts!“, sagte Karen entschieden. „Du ziehst deinen Vorhang zu und ich werde mal hineinschauen.“
Widerstrebend gab Louisa ihr die Schlüssel.