letztes Update: 02.04.2024

Die Grauen in Louisas Landschaft

Nun schon das fünfte Kapitel eines Remote Viewing-Romans! Die positive Resonanz macht Mut. Deshalb
geht es nun online weiter. Was bisher geschah, können Sie im Archiv nachlesen. Und was nun geschieht, darauf können sich besonders die Verschwörer freuen. Ein unglaubliches Ereignis, und ganz aus der Nähe!
Jetzt geht e wirklich zur Sache, die junge Liebe muss gleich auf den Prüfstand. Hat denn wirklich jemand geglaubt, diese vorwitzigen Leute bleiben ungeschoren? Na also, dann also hinein in die action, und auch die Redaktion ruft ihr zu: Wir sind mit dir, Louisa. Wie üblich wollen wir hier eigentlich nichts verraten.

Hier nun als Weihnachtsgeschenk das fünfte Kapitel:

5. AUS DER NÄHE

Am nächsten Morgen begann es zu schneien. Als Louisa erwachte, segelten schon große Flocken zu Erde herab. Noch bevor sie ein zweites Mal verwundert hingeschaut hatte, wußte sie, daß etwas nicht stimmte. Es war Juni, und auch in Dänemark schneite es nicht in diesem Monat. Sie sah zu Robert herüber.

Hinter einer weißen Kissenecke lugte ein Bündel wild zerzauster Haare hervor. War ich das, fragte sich Louisa im Stillen, die Erinnerung an die letzte Nacht stieg in ihr auf. Aber Robert sah immer etwas ungestüm aus. Lou lächelte. Aber sofort erstarrte sie wieder.

- Etwas ist sehr merkwürdig, sehr merkwürdig, meldete sich Lisa und sofort war es wieder da, das Gefühlt des Unwägbaren, der Eindruck, daß etwas gar nicht so lief, wie man es gewohnt war. Die Flocken begannen dichter zu fallen. Mit einem Mal war Louisa ganz wach. Es war, hätte man ihr ein Glas voll Eiswasser über den Kopf geschüttet.

-Ich komme nicht durch. Ich komme nirgendwo hin. Etwas zieht sich um uns zusammen!
Lisa schien sehr beunruhigt.

Louisa schwang ruckartig die Beine aus dem Bett und stand hastig auf. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, als zöge ihr jemand den sicheren Boden sofort wieder weg. Sie taumelte etwas, dann hatte sie sich gefangen. Es war einfach Blödsinn. Louisa ging zum Radio und schaltete es ein. Der Knopf rastete mit einem hörbaren Klicken ein. Das war alles, was geschah.

Keine Sturmwarnung, kein Wetterbericht, keine Musik, kein Überhaupt-irgend-etwas. Nichts, einfach Stille. Louisa ging auf die Knie und sah nach dem Stecker. Es war dunkel unter dem kleinen Tischchen. Sie knipste die Lampe an, die darauf stand. Das heißt, sie versuchte es.

Die Lampe blieb dunkel. Die Deckenbeleuchtung ging auch nicht. Das Radio war sicher in Ordnung, nur der Strom war weg.

- Es ist wie Watte. Es ist weich und flauschig, aber ich kriege es einfach nicht.

Lisa klang wie aus weiter Ferne.

Lou schaute zur Tür. Sie fühlte, wie sie eine Gänsehaut bekam, noch ganz wenig, dort im Nacken, wo sie es immer bekam, wenn etwas Ungewöhnliches geschah. Die Tür bewegte sich leicht, eigentlich war es ein leichtes Rütteln. Wie ein Windstoß, dachte sie. Ein Luftzug berührte sie unangenehm kühl. Es war wirklich ein Windstoß, sie konnte es draußen deutlich sehen. Die Fenster waren so dicht, daß sie nichts durchließen, keinen Laut, keine Luft, und sie waren zu. Gestern Abend hatte sie sie selbst geschlossen. Sie hatte vermeiden wollen, daß ein Laut von ihr und Robert nach draußen drang.

Die Flocken wirbelten in dichtem Reigen durcheinander, umtanzten sich wild, hatten kaum Gelegenheit sich irgendwo festzusetzen. Lou konnte gerade noch das Licht der Tankstelle schräg gegenüber wahrnehmen. Es sah sehr tröstlich aus, aber auch sehr weit weg.

Sie griff sich die Hosen und schlüpfte hastig hinein. Dann den Pullover. Wo war nur wieder dieser eingenähte Schnipsel für hinten? Egal, sie streifte sich das Kleidungsstück über, aber es wärmte sie nicht. Sie fröstelte immer noch.

Im Flur war ein Geräusch. Ein leichtes Knarren, ein Klappern, wie wenn etwas umgestoßen wird. Lou eilte zur Tür und riß sie auf. Vor ihr stand Karen, ebenfalls halb angezogen.

"Oh, du bist auch wach! Was geht hier vor? Der Strom ist weg! Und es schneit! Mitten im Sommer!"

"Ich wollte dich gerade wecken! Wir müssen `raus hier. Das ist nur der Anfang von etwas. Ich bin aufgewacht und hatte sofort Angst. Aber ich kriege es nicht zu fassen, es verschwimmt völlig!!"

"Du fühlst es auch so? Meinst du, SIE haben uns?"

"Ich habe noch nie etwas so wenig gewußt. Was bleibt uns? Weg hier, wenn wir noch die Zeit dazu haben!!

Karen zerrte an ihrer Bluse, bis sie einigermaßen richtig saß. Louisa hatte sie noch nie so aufgelöst gesehen. Aber ihr selbst ging es nicht besser. Lisa schien in eine Ecke zurückgedrängt, nur noch leise, schwache Zeichen von sich gebend. Lou fühlte sich sehr allein und alles Denken schien in Panik zu versinken. Sie kämpfte, um nicht vom Fluchtreflex überwältigt zu werden.

"Robert! Wir müssen ihn wecken! Warum schläft er noch?" Louisa drehte sich um und riß ihre Zimmertür wieder auf.

"Robert!"

Ein undeutliches Grunzen antwortete ihr. Sie rannte hinzu und schüttelte ihn. Er richtete sich bleischwer und wie orientierungslos auf. Louisa schüttelte ihn wieder.

"Ja, es ist gut. Ich bin wach. Lou, mein Schatz, was ist?"

"Schau aus dem Fenster! Der Strom ist weg. Karen kann es auch nicht sagen. Es macht Angst. Totale Angst. Komm, laß uns hier weg!"

Robert schien tatsächlich wach zu werden.

"Oh, was für ein Wetter! Komisch, ich kriege nichts, gar nichts..."

"Wir auch nicht. Es ist wie abgeschnitten, alles zu, Lisa ist völlig verstört. So etwas habe ich noch nie erlebt!"

Endlich sprang er aus dem Bett und angelte sich seine Hose. Er schien ihre Aufregung zu begreifen, auch wenn sie ihn merkwürdigerweise nicht erfaßte.

"Gut. Dann ist es vielleicht soweit. Ich hätte es mir denken können. Geht schon, ich komme sofort nach. Wir treffen uns gegenüber auf der Tankstelle. Erstmal. Nun geht. Es dauert nur noch einen Moment bei mir!" Er hatte schon sein Hemd an und wühlte in einer Tasche.

"Los, macht, daß Ihr davonkommt! Lauft! Zur Tankstelle! Dann sehen wir weiter. Es muß reichen..."

Louisa fühlte sich durch seine Worte und Bewegungen förmlich aus dem Zimmer getrieben. Seine Augen waren kleine, glitzernde Sterne. Er klappte mit einem Ruck seinen Koffer auf.

Louisa stob aus der Tür. Karen wartete schon auf der Straße. Schräg gegenüber schimmerte das Licht der Tankstelle. Tatsächlich, sie hatten Licht angemacht! Sonst war auch kaum noch etwas zu sehen. Die weißen Flocken, die wie aus einer Schneekanone heruntergischteten, raubten fast die gesamte Sicht.

Sie kamen mühsam voran, der weiße Belag - es war tatsächlich Schnee - schwappte schlammig über die Knöchel. Karen, die ihr vorauseilte, verlor einen Schuh. Er schien förmlich kleben zu bleiben. Sie bückte sich nicht einmal, rannte nur weiter. Louisa bemerkte, wie sie furchtbar fror. Eine nie gekannte Kälte fraß sich mit scharfem Biß durch ihren viel zu dünnen Pullover. Karen war ein paar Schritte voraus und Louisas schien es, als wateten sie beide durch ein Feld aus Schlamm. Ihre Bewegungen hatten etwas Zeitlupenartiges an sich, wie ein falsch eingestellter Film. Oder wie ein klebriger Alptraum. Der Weg zur Tankstelle wurde mehr und mehr zu einem Kampf mit jedem Meter Weg. Der Eingang des Tankstellengebäudes machte Anstalten, vor Louisa zurückzuweichen.

Endlich zog Karen die große Glastür auf und die beiden Frauen quollen mit einer dicken, feuchten Wolke zusammen in den Kassenraum. An der Ecke der Auslage flatterten die Zeitungen hoch um gleich darauf welk und schwer zurückzusinken. Die kalte Aura der dahinter aufgebauten Kühltruhe empfand Louisa wie einen warmen Luftzug.

"Was bringt Ihr für ein Wetter! Das habe ich noch nie erlebt! Was ist das da draußen?" Der dänische Tankwart kam hinter seinem Tresen hervor, mit vorgestreckten Armen und einem Gesicht voller Fragen. Seine weit offenen Augen sahen an Louisa vorbei nach draußen und er fuhr fort, noch einige Sätze mehr auszustoßen, einer unartikulierter als der andere.

"Was sagt er?" fragte sie Karen, denn sie hatte mit ihren wenigen Dänischkenntnissen in der Atemlosigkeit dieses Augenblickes kein Wort verstanden.

"Er redet vom Wetter“, sagte Karen abwesend und Louisa starrte ebenso durch die große Glasfront auf die schneebedeckte Straße. Roberts Haus war hinter der Wand aus dichten, taumelnden Flocken kaum mehr zu erkennen. Es war auch so dunkel geworden, daß man schon deshalb seinen Augen kaum getraut hätte.

Ein Gefühl von absoluter Zeitlosigkeit erfaßte Louisa, wie der Gipfel der merkwürdigen Verzerrungen der letzten Minuten. Minuten? Louisa kam der Begriff plötzlich völlig sinnlos vor. Seit sie erwacht war, konnten vielleicht drei, höchstens aber fünf Minuten vergangen sein. Ihrem Gefühl nach waren es Tage oder mehr. Wo zum Teufel blieb Robert?

"Da kommt er!" stieß Karen hervor und richtig, es sah aus, als öffnete sich drüben, Meter oder Kilometer entfernt, die Haustür und eine Gestalt nahm Kurs auf ihren Unterschlupf. Für Louisa sah es mehr aus wie ein Absichtsverhalten, denn nun setzte etwas ein, von dem sie später nie mehr sagen konnte, welche Reihenfolge die Ereignisse hatten und schon gar nicht, wie schnell sie sich abspielten.

Robert schien in vollem Lauf einzufrieren. Dennoch sah er nach oben. Louisa hatte das Gefühl, in einem weiten Winkel um sich herum schauen zu können. Sie meinte, sie sollte mehr sehen, aber sie nahm nichts wahr. Und das war weniger als das normale Gefühl, wenn man weiß, um einen herum existiert die Welt weiter, selbst wenn man die Augen schließt.

Das Licht in der Tankstelle fiel aus. Das Summen der Kühlbox erstarb. Das leise Sausen eines Lüfters verebbte. Von einem krachenden Geräusch eingeschlossen, stürzte das Zeitungsregal um. Louisa mußte sich nicht umsehen, das Bild eines Schwarms von Papierschwingen stand direkt vor ihr, als die Magazine den Tankwart begruben. Kam das dumpfe Geräusch seines Aufpralls jetzt erst?

Merkwürdig, wie sie nichts sah und alles erblickte. Dann - wann? - wurde die alles zusammenpressende Schwärze von einem Licht aufgerissen. Der Strahl stand senkrecht in der Luft und genau unter ihm rannte Robert, ohne daß sich seine Beine bewegten. Er schwebte wie erstarrt über der Schneedecke. Louisa hatte angenommen, daß die Oberkante des Schaufensters ihren Blick begrenzt haben mußte, aber nun nahm sie wahr, daß das Licht eine sinkende obere Begrenzung bekam. Sie wußte, daß die gleißende Helligkeit aus etwas herausfiel, einem Ding, das sich mit quälender Langsamkeit breit und schwärzer als die Nacht des Unwetters auf sie herabschwang.

Die Bewegung hielt an, irgendwann, hoch genug, daß sie sehen konnte, wie Roberts verrückt verkrümmte Gestalt aufwärts trieb, ohne eigene Bewegung und im Rachen dieses Dinges verschwand.

Wie aus weiter Ferne war ein Knattern zu hören, ein merkwürdiger Gegensatz zu der absoluten Lautlosigkeit des Geschehens. Louisa war nicht in der Lage gewesen, auch nur irgendeine Reaktion zu produzieren. Sie existierte lediglich als ein still schreiendes, rohes Stück Angst. Keinem Laut war es möglich, ihrem trocken brennenden Mund zu entweichen. Jetzt wunderte sie sich sogar, daß sie dachte.

-Ein Hubschrauber? schlich der Gedanke durch ihr Blickfeld. Sie wunderte sich doppelt. Wie kam sie auf das Bild eines Hubschraubers? - Ach ja, das Knattern. Tatsächlich, so klang es, wie angestrengt mahlende, entfernte Rotoren.

Der schwarze Apache war zu weit entfernt, als daß ihm etwas geschehen konnte. Louisa wußte es im gleichen Moment. Der Pilot würde sich hüten, näher heranzukommen. Das war nicht sein Auftrag. Aber der Helikopter war da, wahrhaftig und wirklich, ein Gebilde aus menschgeformtem Stahl. Eine Nabelschnur zum Rest des Universums.

Robert hatte die obere Grenze des Lichtstrahls erreicht. Er verschwand. Im Augenblick, da er noch zu sehen war, wurde sein Bild eingefangen, zurückgenommen, abgesaugt aus der Welt des Wahrnehmbaren. Er war einfach weg. Weg! Endlich konnte Louisa ein Wort herausschreien, ein winziges Wort, auch wenn es ihr nicht wirklich so erschien wie ein richtiger Schrei. Eher war es, als hätte sie damit für einen kurzen Moment das Ventil des prallen Ballons öffnen können, der ihr Kopf war und in alle Richtungen des Universums auseinanderzuplatzen drohte. Hatte Edvard Munch ebenso empfunden, jener Maler der bildhaften Befreiungsschläge, der von den Begriffswelten der traditionellen Kunstverwaltung wieder eingefangen wurde?

Gefesselt von Einordnungen und Etiketten, so wie sie gefesselt war von ihrem Unvermögen, irgendetwas zu tun, außer wahrzunehmen?

Alles war gleichzeitig. Louisa wunderte sich über ihre Gedanken, darüber, daß sie überhaupt Gedanken hatte, daß sie etwas wahrnahm, obwohl nichts zu sehen war, daß sie alles erblickte, ohne den Kopf auch nur einen Millimeter zu drehen und darüber, daß sie nicht einmal die Kraft hatte, über die Absurdität der Vorgänge zu staunen.

Die Schwärze des Dinges erhob sich in die Schwärze des frühen Junimorgens, sie stieg auf und verflüchtigte sich schnell oder langsam in den Strahlen der Sommersonne. Ein kurzer Lichtschein huschte über Karens Stein gewordenes Gesicht, eine starke Gestalt sank nieder zum gekachelten Boden und Louisa hob die Hand zum Mund. Sie bewegte sich, so wie sich draußen die Flocken bewegten, aber nicht im Licht tanzend, sondern an der Glasfront der Tankstelle schmelzend. Tauend, die klamme Starre überwindend, zum Fluß der Bewegung zurückkehrend. Das Gefühl des Hintereinanders setzte wieder ein. Draußen wurde es heller. Die Sonne kam zurück, wie um nachzuschauen, was sich in diesem Winkel des Universums verborgen hatte, der ihr für einen nicht meßbaren Zeitraum entzogen worden war.

Louisa hatte alles Gefühl dafür verloren, wie das vergangene Ereignis zu beurteilen wäre. In ihr fühlte sie nur schreiende Leere, und bald stellte sie fest, daß sie selbst es war, die schrie und immer nur schrie, obwohl sie wußte, daß niemand in der abgekapselten Weite des Kassenraumes sie hören konnte. Aber es tat gut, und sie hätte es gern auch damals getan, als sie die Nachricht vom Tod ihrer Eltern erhielt. Denn schon wieder fühlte sie sich so, genau so, als wäre eine geliebte Person gestorben und sie hatte untätig zuschauen müssen. Wie, als wäre ein Kind neben ihr im Spiel über die Brüstung eines Hochhauses geklettert und hinabgestürzt.

Und sie, unfähig, sich zu rühren, hatte bis zum Aufprall zuschauen müssen. War nicht auch Robert gefallen, ihr Geliebter Robert, ihr Baby, das, was sie wieder mit der Welt verbunden hatte. Aber er war hinauf gefallen, doch das machte keinen Unterschied. Er war gefallen. Es spielte keine Rolle, ob er irgendwo aufgeprallt war. Er war weggenommen aus diesem Universum. Sie hatte keine Ahnung, wohin und ob es eine Möglichkeit gab, ihn wiederzufinden. Das war genauso, als wäre er tot. Nie wieder ins Hier und Jetzt zurückholbar, nicht für Louisa und nicht für irgendjemand anders in dieser, ihrer Welt.

Das Licht in der Tankstelle war wieder angegangen, ohne daß sie es bemerkt hatte. Der Schnee auf der Straße war geschmolzen, ohne daß es ihr aufgefallen war. Die Wärme des Sommertages war zurückgekehrt, ohne daß sie das Eis ihrer Seele hätte tauen können.

Sie sah sich wie von Weitem zu, als sie auf die Straße hinausrannte, hinaufstarrte in die zurückgekehrte Sommerhimmelsbläue, einen schwarzen Punkt suchend, an dem sich ihre Schreie festkrallen konnten, den sie damit herabziehen und zum Absturz bringen konnte. Aber es war nicht einmal mehr der schwarze Hubschrauber zu sehen, den sie gern als Ersatz angenommen hätte, für ihren leidenschaftlich Wunsch, etwas zurückzugeben, jemandem genauso etwas anzutun, wie ihr angetan worden war. Der Pilot hatte längst abgedreht und kam seinem Auftrag nach, die Daten zur Sicherung und die Filme zur Entwicklung abzugeben.

Louisa ging sehr langsam, sehr müde zur Tankstelle zurück und setzte sich auf die Stufen des Eingangs. Die Tür stand offen; kein Laut löste sich im Kassenraum. Louisa starrte auf die fast wieder trockene Straße, aber sie sah sie nicht. Sie spürte, wie ein kleines Rinnsal durch ihren inneren Damm sickerte. Sie ließ es ohne jede Gegenwehr zu. Die Quelle sprudelte stärker, dann brach ihre bisher mühsam gehaltene innere Versiegelung. Louisa weinte ohne Halt. Tränen der Erlösung, Ströme der Linderung schossen hervor und sie wiegte sich in den aufsteigenden Fluten des Trostes.

Sich so aufgebend, verpaßte sie das Erwachen des Tankwartes, sein verstörtes Gesicht, die fahrigen Bewegungen eines Menschen, der aus seinem sicheren Verständnis der Alltäglichkeit gerissen wurde. Ganz von fern bemerkte sie das unsichere Tippen auf ihrer Schulter, hörte die dänischen Worte und schwamm mit unsicheren Bewegungen wieder an die Oberfläche der Realität.

"Ich verstehe Sie nicht“, hörte sie sich endlich sagen. Der Tankwart brummte etwas, das für sie auch keinen Sinn ergab, dann wandte er sich ab und schlurfte hörbar in den Kassenraum zurück. Louisa kehrte zurück zu sich selbst und bemerkte mit einem mal die beklemmende Stille in sich. Wie sonst in hilflosen Situationen versuchte sie, ihre Landschaft zu entrollen. Es gelang ihr nicht. Sie rief nach Lisa, hinein in die entsetzliche Lautlosigkeit in ihr und bekam keine Antwort. Oder doch? Ein leises Wimmern, ausgesandt von einem winzigen, zusammengekauerten Knäuel, gerade an der Schwelle zur Existenz. Lou wußte nichts zu tun. Diese Situation war noch nie dagewesen. Sonst hatte Lisa ihr aufgeholfen, wenn sie von etwas niedergeschlagen worden war. Aber Lou versuchte ihr Bestes. Vorsichtig streichelte sie die Oberfläche des verzagten Häufleins, ließ einen zarten Strom von Liebe und Kraft zu Lisa vordringen und verstärkte ihn, als sie eine Reaktion bemerkte.

Aus dem Kassenraum drangen jetzt weitere Geräusche. Leise Laute der Ordnung, des Aufrichtens von Regalen, des Einsortieren von Papierwerk. Dann Stimmen, ein Gespräch. Ein Mann, eine Frau. Aber Louisa war viel zu sehr mit sich beschäftigt, um zuzuhören.

Schließlich spürte sie eine warme Hand auf ihrer Schulter. Ein zusätzlicher, belebender Strom gesellte sich zu ihren Bemühungen. Lisa erstand wieder, sie nährte sich an der einfließenden Kraft, erstarkte und übernahm ihrerseits Teilbereiche von Louisas Wiederherstellung.

Ihre Landschaft entrollte sich, sie stand auf und schaute Karen ins Gesicht.

"Der Tankwart ist völlig verstört. Er hat keine Ahnung, was vorgefallen ist. Er sorgt sich um seine Kasse, aber es fehlt nichts. Er nimmt an, es gab einen Überfall."

Karen lächelte, aber Louisa bemerkte, daß sie sehr blaß war. Sie nahm Karens Hände und ließ etwas von ihrer wiedergewonnenen Kraft zurückfließen. Es war ein plötzlicher Impuls gewesen. Sie hatte so etwas noch nie gemacht, aber es fühlte sich sehr gut an. Karens Lächeln vertiefte sich.

"Es hat geklappt“, sagte sie unvermittelt, "wir sind tatsächlich davongekommen!"

"Aber Robert..." Louisa spürte, wie ihr schon wieder der Boden unter den Füßen wegzugleiten schien.

"Ja, Robert hat es nicht geschafft! Aber wir, verstehst du? Wir sind nicht ganz hilflos! SIE haben uns übersehen! Und wenn das so ist, dann gibt es Hoffnung! Auch für Robert, verstehst du?"

Louisa wollte verstehen. Sie wollte es sehr gern und sie trank Karens Worte und richtete sich an ihnen mit jedem Moment weiter auf.

- Sie hat recht, meldete sich nun auch Lisa, und obwohl sie nicht das übliche lebendige Klingen begleitete, spürte Lou eine feste Zuversicht. - Ich werde es das nächste Mal besser machen. So wie dieses Mal soll es nicht wieder passieren.

- Was hast du gemacht, fragte Lou erstaunt und neugierig.

- Ich habe wieder zugezogen, wie schon einmal, antwortete Lisa, - aber ich war etwas spät dran. Ich habe mich fast überrumpeln lassen. Aber das ist jetzt vorbei! -

Stunden später saßen sie in Esbjerg in einem kleinen Cafe´. Louisa konnte die enge Straße hinabblicken, die nach dem Regenschauer so leergefegt schien. Die vielen bunten Wimpel, die man quer darüber gespannt hatte, schwappten träge in einer leichten Brise, die von der See kam. Die kahlen, glatt verputzten Hauswände standen in einem merkwürdigen Kontrast zu der aufgesetzt wirkenden Fähnchenfröhlichkeit.

"Ich glaube, wir sollten in Bewegung bleiben."

"Was?" Louisa schrak auf.

Karen fing ihren Blick ein. "Es gibt Verletzungen, die auch ich nicht heilen kann. Louisa! Wir müssen etwas tun! Verliere dich jetzt nicht! Wir müssen handeln! Laß uns nachdenken, was wir tun können!"

Louisa richtete sich etwas auf, nahm die Tasse hoch, die vor ihr stand und nippte etwas von ihrem Milchkaffee.

"Natürlich. Entschuldige. Ich treibe immer davon. Was meinst du, was wir tun sollen?"

"Zunächst in Bewegung bleiben. Wir haben ja schon darüber gesprochen. Es ist nicht ganz leicht, uns zu finden, zumal wir uns nun beide dicht gemacht haben. Ich bezweifle aber, daß allein diese Abschirmung genügt. SIE haben Robert auch gefunden. Und er war sich so sicher. Deshalb müssen wir öfter den Ort wechseln. Einer geographischen Veränderung nachspüren braucht immer eine gewisse Zeit. Das gilt auch für Sie und damit bist du IHNEN anfangs auch entkommen."

"Wie lange sollen wir unterwegs bleiben? Wir müssen auch schlafen. Und was soll es werden? Wir können das nicht ewig durchhalten." Louisa starrte wieder durch das große Fenster auf die menschenleere Straße. Ihr roter Wagen war der auffälligste Farbklecks in einer grau-grün-blau-weißen Reihe geparkter Fahrzeuge der Anwohner. Was bildeten sie sich ein, dieser Macht, die Robert entführt hatte, entgegensetzen zu können! Louisa hatte sofort wieder das Bild des riesigen schwarzen Gebildes vor sich, und fühlte noch einmal ihre tiefgreifende Hilflosigkeit gegenüber dem letzten Geschehen.

Karen riß sie erneut aus ihrem stillen Sinnieren.

"Was macht Deine Untere? Seid Ihr wieder gut zusammen?"

"Lisa? Ja, schon. Wir schweigen vor uns hin, wenn du das meinst. Fühlst du es nicht?"

"Ich dränge mich nicht auf. Es ist euer Garten. Hast du wieder einmal hineingeschaut? Vielleicht findest du dort etwas mit Lisas Hilfe."

"In meiner Landschaft? Nein, ich habe sie nicht mehr ausgerollt. Sie war so leer, als wir hineinschauten. du weißt, daß wir auch dort zusammen waren. Und dann war er weg. Und das bedeutet etwas sehr Schlimmes. Robert sagte, keine Macht der Welt könne uns dort auseinandertreiben, wenn wir es nicht selbst wollten. Und nun ist es doch geschehen."

Louisa hörte auf, zu reden. Ihre Kehle fühlte sich dick und zugeschnürt zugleich an und langsam wurde auch ihr Blickfeld unscharf. Sie bemerkte, daß es Tränen waren, die ihre Augen füllten.

"Ich habe eine Idee", sagte Karen leise, aber dazu mußt du sie wieder entrollen. Auch, wenn es weh tut."

Lou merkte, wie sie Karen eine Weile leer anstarrte, unfähig, die Agonie zu durchbrechen, die sie erfaßt hatte. Doch plötzlich regte sich etwas, ganz fein, ganz leise, in ihrem Innern. Etwas geschah, mit dem keiner gerechnet hatte.

Lisa entrollte ihre Landschaft. Sie tat es ungefragt, ohne eine Entscheidung abzuwarten. und es schien, als würde sie leise kichern.

- Funkstation an Zentrale, Sie haben einen Anruf im Sektor Grün! Möchten Sie annehmen? Lisas Pseudostimme hatte tatsächlich einen bemerkenswert fröhlichen Glanz.

"Wie? Was gibt es? Wo? " antwortete Lou in ihrer Verblüffung mit dem Mund und Karen fixierte sie gespannt.

-  Nun komm schon, geh in den Garten. Dort wartet jemand, der nicht unendlich viel Zeit hat!

Lou ließ sich willenlos an die Hand nehmen, betrat den breiten, sandigen Weg, der in ihre Landschaft führte. Es war wie immer. Es war leer. Oder doch nicht?

Auf der Bank mit der schönen Aussicht saß jemand. Auf der Bank, die sie zusammen mit Robert gebaut hatte, der zum Bild ihrer inneren Verbindung geworden war. Sie konnte jedoch nicht erkennen, wer dort saß, auch nicht, als sie näher kam. Es war eine Gestalt, aber sie blieb merkwürdig verwaschen.

"Setz dich her, mein Schatz! klang eine vertraute Stimme auf, "ich habe tatsächlich nicht viel Zeit. Oder besser: es kostet mich viel Kraft, hierher zu kommen. Aber er geht mir gut, sorge dich nicht!"

"Robert!" Für einen Augenblick nahm die Gestalt sichtbare Züge an. Vielleicht war es Lisa, die ein wenig nachhalf. Lou stürmte glücklich die letzten Meter voran, wurde sich aber gleichzeitig bewußt, daß sie ihn nicht würde anfassen können.

"Nein, versuche nicht, mich zu berühren“, fuhr Robert fort, als sich Louisa zu ihm auf die Bank setzte. "Es würde mich noch mehr Kraft kosten. Wie du siehst, mir ist nichts Ernstes geschehen, außer, daß ich nicht weg kann. Darin sind SIE sehr gut, glaub mir. SIE sind nicht perfekt, deshalb kann ich kurzfristig hier bei dir sein. Aber entkommen wird kaum möglich sein, jedenfalls nicht ohne Hilfe."

"Aber ich will dir helfen!" Louisa konnte sich kaum zurückhalten. Alles drängte in ihr, Robert anzufassen, zu spüren, daß er tatsächlich da war. "Kann ich denn, können wir irgendetwas tun? Karen ist auch noch da. Und was ist mit Deinen Freunden? Es muß doch einen Weg geben..."

"Ich möchte Euch nicht gefährden. Es wird sich schon eine Möglichkeit ergeben, da bin ich sicher. Soweit ich weiß, haben SIE auch Gegner. Ich werde versuchen, Kontakte aufzubauen. Offensichtlich ist mein Gefängnis nicht ganz dicht." Er klang merkwürdig amüsiert.

"Wo bist du? kannst du das sehen? Hat man mit dir gesprochen? Was wird werden? Hat man dich bedroht, gefoltert?" Louisa konnte nicht verhindern, etwas näher an die vage Gestalt an ihrer Seite heranzurutschen, die von Zeit zu Zeit deutlicher Roberts Züge annahm.

"Aber nein." Wieder war Roberts leises Lachen zu hören. "Nein, das haben SIE alles nicht nötig. Ich glaube, ich werde irgendeinem Programm zugeordnet. Dazu werde ich auch nicht befragt. SIE wissen, was sie wissen wollen. Ich denke, es ist noch nicht entschieden. Ich mußte kurzfristig aus dem Verkehr gezogen werden und SIE können mich jetzt nicht überall hin schicken. Ich bin wohl nicht so bequem. Wie gesagt, allmächtig sind SIE auch nicht."

"Wer ist das - SIE...  hast du SIE gesehen? Sind es Menschen, Ungeheuer? Weißt du überhaupt, wo du bist?" Louisa kam plötzlich zu Bewußtsein, wie absurd die Situation war. Sie saß auf einer Bank, die es nur in ihrer Phantasie gab und unterhielt sich mit einem Geist über dessen Entführung durch - ja, durch wen eigentlich? Wer hatte die Möglichkeiten, einen solchen Aufwand zu treiben, wie sie es heute erlebt hatte? Oder war es für SIE gar kein Aufwand? Diese Wetterbeeinflussung, dieses riesige Luftschiff (oder was immer es war), und dieses Einfrieren eines Menschen, diese Levitation, vielleicht war das Alltag für SIE, so wie Karen und sie sich danach in ihr Auto gesetzt hatten und von dem Ort des Schreckens weggefahren waren. Es war noch nicht sehr lange her, als Menschen eine Lokomotive noch für ein Ungeheuer gehalten hatten.

"Ich glaube, Sie haben mich nicht sehr weit weggebracht, vielleicht nur bis zum Mond. Das läßt hoffen, glaube ich. Ich kann mir auch denken, wer meine Entführer waren. Man könnte sagen, es sind Leute von sehr weit her. Davon gibt es sehr viele. Leute, die von anderen Sternen kommen. Es sind nicht immer Menschen, und es gibt auch Variationen der einzelnen Baumuster. Menschen können sehr unterschiedlich aussehen. Groß und klein, schmal oder dick, mit vielen Hautfarben und Variationen in den Körperteilen. Die Leute, bei denen ich zu Gast bin, sind eher klein. Es ist eine sehr alte Rasse. Du würdest SIE häßlich finden, glaube ich. Aber laß dich nie von Vorurteilen leiten. Sie mögen unser Aussehen auch nicht besonders."

Louisa starrte ihn an. Er war in einer unglaublichen, schrecklichen Szenerie gefangen und er sprach zu ihr in einem völlig ruhigen Tonfall, als ob sie tatsächlich zusammen auf einer Bank in einem Garten zusammensäßen.

Nur seine unsichere Konsistenz störte die Harmonie deutlich. Jetzt wurde er wieder leicht durchsichtig.

"Ich glaube, ich muß erstmal zurück. Ich schaffe es nicht mehr länger. Geh zu meinen Freunden. Du hast hoffentlich meine Sachen mitgenommen. In meinem Notizbuch findest du die Adressen. Sag ihnen Bescheid. Und wenn sie wirklich etwas unternehmen wollen, gib ihnen diese Koordinaten hier. Aber sie sollen es nicht allein machen, hörst du? Sag ihnen das unbedingt. Allein sind sie verloren! Das ist ganz wichtig!"

Seine schon etwas flatterige Gestalt beugte sich nach vorn und zeichnete etwas in den weichen Sand zu seinen Füßen. Louisa betrachtete die Zeichen. Es waren Zahlen, sieben in einer Reihe, drei Reihen untereinander. Louisa fielen die Aufzeichnungen ihres Vaters wieder ein. Koordinaten... für was? Der Ort, wo sich Robert aufhielt?

"Leb wohl, mein Schatz. Kopf hoch. Mir geht es wirklich gut. Ich bin nur leider sehr weit weg, wenigstens körperlich. Aber in Wirklichkeit bin ich immer bei dir. Und vielleicht auch bald wieder ganz."

Bei den letzten Worten löste er sich auf. Es war genau so, wie in einem Film über Geister. Er wurde durchsichtiger und durchsichtiger, und kurz, nachdem er geendet hatte, verwehten die letzten Schwaden seiner Existenz. Louisa mußte jetzt doch hinfassen. Sie hielt es einfach nicht länger aus. Aber sie griff in Nichts, es gab nicht einmal ein blasses Kribbeln oder eine leichte Kühle oder Feuchtigkeit auf ihrer Haut. Jetzt bemerkte sie das warme Gefühl in ihrer rechten Schulter.

Als sie hochschaute, stand Karen da, leicht über sie gebeugt und mit besorgtem Gesicht. Die Landschaft rollte sich zusammen. Louisa saß auf ihrem Stuhl in dem Cafe´ in dieser dänischen Hafenstadt in Europa auf dem dritten Planeten einer kleinen gelben Sonne in einem abgelegenen Spiralarm einer von unzähligen Galaxien in einem unüberschaubaren Universum, das vielleicht nicht das Einzige seiner Art war. Der Begriff "klein" hatte eine neue Dimension für sie bekommen.

Karen lächelte tröstend und setzte sich wieder. Das Cafe´ war leer, die Bedienung döste über ihrer aufgeschlagenen Zeitung und draußen glänzte die Straße von einem der häufigen, leichten Regenschauer der oberen Nordseeküste.