von Jana Rogge
Beim Besuch in der Bar am Ende des Universums kommen wir – ich weiß nicht mehr wie – auf das Thema Löffelverbiegen. Ich glaube, es ging in dem Gespräch um die Frage, wie der Geist Materie beeinflussen kann. Vor meinen Augen leert Manfred eine Pappschachtel mit unzähligen verbogenen Löffeln aus. Die sind Überbleibsel von einem Seminar erzählt er. Jeder, der dabei war, hat an dem Tag etliche Löffel gebogen, und die meisten blieben danach einfach übrig. Manfred erinnert sich, dass es hauptsächlich darum ging, seine Denkweise zu ändern. Er sei irgendwann zu dem Punkt gekommen, „wo er die ganze Sache mit der Realität nicht mehr ernst nehmen konnte“. Und da klappte es plötzlich, der Löffel war für einen Moment butterweich.
Ich kann Manfred überreden, mir einen der vielen Löffel zu überlassen. Bin so beeindruckt von der Sache, dass ich gern einen fassbaren Beweis mitnehmen möchte. Ich habe schon viele Sachen erlebt, die das „normale“ Weltbild sprengen, wie wahrscheinlich jeder, der hier eines Tages in der Bar ankommt. Aber so einen wirklich anfassbaren Beweis hat man doch selten in der Hand. Manfred willigt ein und überlässt mir einen der Löffel.
Den zeige ich am nächsten Tag Timo, nachdem wir auch gerade über das „Zurechtrücken“ des eigenen Weltbildes gesprochen haben. Bei mir ist diese große Erschütterung, die anscheinend jeder erlebt, der sich auf diese neue Welt einlässt, zum ersten Mal vor zehn Jahren passiert. Neuland für mich ist es, von Leuten umgeben zu sein, mit denen man ernsthaft und unbefangen über all das sprechen kann. Timo macht für sich ein Foto von dem Löffel, damit er ebenfalls eine Erinnerung mitnehmen kann (Bild 1). Charlyn sitzt mit einer Teetasse auf dem Sessel daneben und wir stellen fest, wie absurd die Situation gerade ist: Drei Leute in einem Raum reden über verbogene Löffel, ohne das nur ansatzweise komisch zu finden. Wir alle akzeptieren längst eine Vielzahl von neuen Möglichkeiten jenseits unseres bisherigen Erfahrungshorizontes. Man kommt aus einer Welt, die man im Wesentlichen verstanden zu haben glaubt und steht plötzlich wieder ganz am Anfang. Aber trotzdem würde keiner von uns mehr tauschen und ins „Vorher“ zurückgehen. Mal ganz abgesehen davon, dass es nicht mehr möglich ist.
Als Teenager hatte ich bei Hermann Hesse einen Satz abgeschrieben, der mich damals schon beeindruckt hatte:
„Die Dinge, die wir sehen, sind dieselben Dinge, die in uns sind. Es gibt keine Wirklichkeit als die, die wir in uns haben. Darum leben die meisten Menschen so unwirklich, weil sie die Bilder außerhalb für das Wirkliche halten und ihre eigene Welt in sich gar nicht zu Wort kommen lassen. Man kann glücklich dabei sein. Aber wenn man einmal das andere weiß, dann hat man die Wahl nicht mehr, den Weg der meisten zu gehen.“
Damals hätte ich mir sicher nicht träumen lassen, in welchem Kontext ich dieses Zitat einmal als zutreffend empfinden würde.
Beim Abendessen in Husum kommt das Löffel-Thema wieder auf den Tisch. Tina erzählt, dass sie ebenfalls zweimal bei einem solchen Seminar dabei war. Nun sitzen wir also schon zwei Leuten gegenüber, die mir glaubwürdig erzählen, sie hätten bei verschiedenen Gelegenheiten handelsübliches Besteck in Schleifen gelegt.
Nach dem Essen in Husum setzen Charlyn und ich uns Richtung Dockkoog ab, um den letzten Rest des Sonnenunterganges zu genießen. Wir wandern an der Promenade entlang. Im Schlick der beginnenden Ebbe platscht ein kleiner Seehund herum, während auf der anderen Seite des Weges einige Jugendliche die nächtliche Idylle mit fragwürdiger Musik aus der Konserve akustisch verzieren müssen. Auch wenn wir die Audiokulisse eine Weile tapfer zu Gunsten des herrlichen Ausblickes ignorieren, wird es doch irgendwann zu ungemütlich und wir treten den Rückweg an.
Auf diesem kurzen Stückchen Weg, von den Strandkörben bei der Badestelle am ausgebrannten Hotel vorbei zurück zum Parkplatz, beschleicht mich eine ganz seltsame Stimmung. Ich spreche Charlyn darauf an, und ihr geht es ebenso. Die ganze Absurdität unserer Situation in genau diesem Moment kommt mir in den Sinn. Wir erinnern uns an die Herfahrt vor zwei Tagen. Im Auto hatten wir recht ausführlich über das Gedankenmodell von „Ein Kurs in Wundern“ gesprochen, und insbesondere über die Sichtweise, die erfahrbare Welt sei eine reine Projektion. Die Szene rund um uns herum fühlt sich an wie eine Kulisse, in der wir umherwandern. Ich glaube, ich sage so etwas wie „Das ist hier wie in einem Pappkarton.“ Die Worte beschreiben nicht gut genug, was ich sagen will, aber Charlyn versteht trotzdem, was ich meine.
In diesem Moment habe ich die Hand in der Hosentasche und ziehe den Löffel heraus, spiele gedankenverloren daran herum und dann ist da plötzlich der Moment: Zack. Löffel wieder gerade. Ich bin erstaunlich wenig erstaunt. Irgendwie ist das nur folgerichtig. Ich halte das entfaltete Besteckteil meiner Begleiterin unter die Nase. Die schaut ebenfalls wenig beeindruckt. Schnell schieße ich ein Foto. Dokumentation ist alles (Bild 2). Kurzer Blick auf die Uhr: Kann ich Manfred und Kristina jetzt noch anrufen? Es muss sein. Während ich dem Angerufenen am Telefon die Neuigkeit unter die Nase reibe, hält mir Charlyn den Löffel erneut unter die Nase. Sie hat ihn ebenfalls verbogen (Bild 3).
Einige Minuten später sitzen wir im Auto und fahren Richtung Froschsalon. Die Spannung ist groß. Werden wir die aktuelle Stimmung halten können, bis wir dort an der Besteckschublade ankommen? Die Sache muss selbstredend noch einmal getestet werden. Ist man in solch einem Zustand eigentlich uneingeschränkt fahrtüchtig? Und was sagt das Protokoll darüber, bei seinem Gastgeber Teile des Bestecks zu demolieren? Ein kurzer Blick auf die Löffel in der Schublade gibt Entwarnung: IKEA-Material. Feuer frei. Es funktioniert immernoch, wir sind positiv entsetzt. (Bild 4)
Vor dem Schlafengehen schnell noch bei Amazon ein Ersatz-Set bestellen, wir wollen ja die gute Erziehung nicht vergessen.
Ich glaube, ich muss auch nicht erwähnen, dass Manfred und Kristina beim Frühstück mehr amüsiert als beeindruckt sind von unserem nächtlichen Biegeabenteuer.
Auf der Heimfahrt im Auto drehen sich die Gespräche natürlich vorrangig um die Löffelfrage. Ein paar Exemplare vom Vorabend stecken noch im Rucksack, daran wird vorsichtig ein wenig hin- und hergebogen, immer in der Angst, man könnte die heiligen Beweisstücke zerstören. Es ist klar: Wir brauchen mehr Löffel. Am besten sofort und nicht erst bis morgen warten. An der ersten Raststätte halten wir an. Aber Enttäuschung: Wegen Corona ist das Buffet abgeräumt und die Besteckkästen sind leer. Man bekommt nur an der Theke Speisen zum mitnehmen, vorrangig Fingerfood. Ich probiere es trotzdem und frage nach Besteck. Der hilfsbereite Mitarbeiter überreicht mir freudestrahlend zwei Plastiklöffel. Ich könne zur Sicherheit auch noch zwei weitere haben. Danke, reicht schon.
Wieder im Auto sage ich: „Ich wünsche mir jetzt einfach einen ganzen Haufen Löffel. Das muss doch irgendwie gehen. Vielleicht gibt es hier einen Rasthof mit richtig großem Buffetbetrieb, so ein Mövenpick Marché. Oder von mir aus auch ein Haushaltswarenladen direkt an der Autobahn.“ (Das waren ziemlich original meine Worte.)
Keine 10 Kilometer weiter sehen wir einen Wegweiser für einen Rasthof mit Marché. Bingo, den nehmen wir. Charlyn biegt von der Autobahn ab, und fährt in einen Kreisverkehr. Gleich dahinter sind wir in einem Gewerbegebiet. Nanu? War das ein Autohof oder haben wir uns verfahren? Während wir uns das fragen, steuern wir auf einen Parkplatz eines Supermarktes zu. Familia – haben die nicht auch eine Haushaltsabteilung? Wenn wir schon mal da sind, gehe ich kurz nachsehen, die fünf Minuten haben wir jetzt auch noch.
Der Leser ahnt vielleicht: Ja, es gibt dort eine Haushaltsabteilung. Und ein Extra-Regalfach für Sonderposten, unter anderem Löffel. Im Sechserpack, verbilligt. Nicht mal den Rest vom Besteck muss man mitkaufen. Ich greife vier Sechserpacks Eßlöffel, steure ohne Schlangestehen durch die Kassenzone und bin in weniger als fünf Minuten mit meiner Beute wieder auf dem Parkplatz. Die restliche Fahrt verbringen wir in bester Spiel-Laune. (Bild 5)
Bevor ich nun noch ergänze, dass unsere Billiglöffel leider eine mindere Materialqualität haben, kann man nochmal kurz Revue passieren lassen, was hier gerade als wunderbares Lehrstück funktioniert hat: Die Lieferung zu meinem Wunsch erfolgte umgehend, auf dem schnellsten Weg und absolut perfekt bis ins Detail.
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