4. AM FELD
Die Tür der Wohnung war amtlich versiegelt. Die quer über den Spalt geklebten Papierstreifen zu erbrechen, bedurfte eines Entschlusses, der Karen schwerfiel. Das war der Moment, in dem sie aktiv in das Feld der Verfolger eintreten würde. Damit rückte sie ebenfalls in den Focus. Sie kam sich vor wie eine Maus, die versuchte, ein Stück Käse aus der Falle zu ziehen, ohne erwischt zu werden. Die Aufsteller der Falle würden nun auch sie verfolgen.
Wie um die Entscheidung aufzuschieben, ging sie zunächst noch einmal die Treppe hinab, um den Briefkasten zu leeren. Er quoll förmlich über. Wohin sollte sie die ganze Werbung tun? In ihrem Haus gab es einen Papierkorb neben den Hausbriefkästen. Der fehlte hier. War es überhaupt richtig, schon hier unten das Zeichen zu geben, dass jemand hier gewesen war? Karen zögerte noch einmal kurz, bevor sie energisch den Schlüssel in die Briefkastentür steckte. Vorsichtig drehte sie die Tür zur Seite und versuchte, zwischen den bunten, verknüllten Heften die Umschläge herauszuziehen, die einen wirklich wichtigen Inhalt hatten. Die Prospekte rutschten nach, fielen auf den Boden.
Karen bückte sich. Eine Tür knarrte. Es kam leicht von oben, auf jeden Fall von hinten. Sie richtete sich ruckartig auf und drehte sich um. Alles war still, die Türen des Hochparterres fest geschlossen. Vorsichtig ließ sie ihren Geist herumgleiten, aber da war nichts, was sie als gefährlich einstufen konnte. Hinter der einen Tür schlief ein Rentner in seinem Sessel, die anderen Wohnungen waren leer, die Bewohner vermutlich auf der Arbeitsstelle.
Aber sie war sich nicht sicher, ihr Herumtasten war nicht perfekt. Am besten konnte sie andocken, wenn jemand an sie dachte. Aber da war niemand. Oder doch?
Das Gefühl des Beobachtetwerdens hielt an, aber sie ignorierte es trotzig. Ich bin nicht da! Energisch blockierte sie ihre Ausstrahlung, wie sie es immer getan hatte, wenn sie nicht angesprochen werden wollte. Aber sie wurde unsicher. Das hier war nicht wie sonst.
Mit schnellen Schritten eilte sie wieder hinauf in die Wohnung, ein paar schnelle Schnitte, die ungewohnten Schlüssel sperrten sich und klemmten, spreizten sich wie kleine Tiere, die fliehen wollten, in ihrer Hand. Rasch hinein; sie zog die Wohnungstür zu, genug für einen flüchtigen Betrachter. Die Dinge, die Louisa brauchte, waren schnell zusammengetragen. Präzise Beschreibungen verkürzten das Suchen. Aber noch immer brannte es in ihrem Nacken wie glühendes Eisen. Sie konnte nichts Genaues feststellen, das machte sie noch unsicherer. Eine derartige Situation hatte sie noch nie erlebt. Hastig raffte sie noch ein paar Sachen zusammen. Die große Tasche quoll ohnehin fast über. Sie hätte sorgfältiger packen sollen.
War das jetzt wichtig? Sie musste dringend weg von hier, hinaus aus dieser Wohnung. Das ganze Haus war eine Falle, sie wusste es, aber es war ihre eigene Idee gewesen, hierher zu gehen. Mit zitternden Fingern drückte sie die Tür wieder zu, lauschte in das Treppenhaus. Nichts.
Oder doch? Was war dieses leichte Schleifen, eine Treppe über ihr? Geräusche, kaum wahrnehmbar, an der Grenze der menschlichen Aufnahmefähigkeit. Kamen sie näher? Panik flammte auf, heiß und unerbittlich. Jetzt nicht die Nerven verlieren! Mechanisch aufs äußerste kontrolliert schritt sie die Treppen hinunter, immer gefasst darauf, dass ihr etwas ins Genick sprang, ihren Rücken zerfetzte, sich in ihrem Hals verbiss. Stufe für Stufe, ein Absatz, wieder Stufen. Die Treppe nahm kein Ende. Soviel Zeit verging! Jetzt würde es passieren!
Aber nichts geschah. Der alte Mann schnarchte hinter seiner Wohnungstür, sie konnte es tatsächlich hören. Und sonst? Sie vernahm nur das Echo ihres klopfenden Herzens unter der Schädeldecke und ein unangenehmes Brausen, aber das musste das Blut in ihren Adern sein.
Die Haustür schwang auf. Sie war auf der Straße. Leute gingen vorbei. Niemand nahm Notiz von ihr.
Dennoch.
Drinnen?
Drinnen.
Sie wusste es, aber ihre fehlende Wahrnehmung machte sie verrückt, wie sie es nie empfunden hatte. An der Ecke wartete Louisa mit ihrem leuchtend roten Wagen. Deutlicher konnte man nicht in sein Verderben rennen! Karen bemühte sich, normal zu gehen, während alles in ihr schrie, zu rennen, die Tasche in das Auto zu schleudern, „Los, fahr!“ zu rufen und sich aufatmend in die Polster fallen zu lassen, während sie mit kreischenden Reifen den unheimlichen Ort verließen.
Ohne ihre Freundin zu beachten, schritt sie an dem knallroten Fleck auf der Straße vorbei, bog um die Ecke und überquerte die Hauptstraße, die sich dort in ihren Weg legte.
Hinein in diese Nebenstraße, links und rechts kleine Geschäfte, hingeduckt hinter Parkhäfen mit eingedellten Begrenzungspfählen. Mannshohe Büsche standen neben einem breiten Fußweg. Karen musterte die Straße, soweit sie eben sehen konnte, streckte ihre Fühler bis zur nächsten Ecke und rückwärts gerichtet bis zur Kreuzung aus und bemerkte nichts. Obwohl sie das hätte beruhigen sollen, schritt sie noch schneller voran. Hinter ihr ertönte das gedämpfte Geräusch eines sich nähernden Autos. Sie sah sich nicht um, sie wusste, wer es war und ging nur etwas näher zum Straßenrand. Als der rote Wagen neben ihr auftauchte, drehte sie sich blitzartig zur Seite, riss endlich die Tür auf und glitt hinein, die schwere Tasche auf die Knie zerrend.
„Weg!“, stieß sie gepresst hervor; es war eine Erleichterung, dieses Wort loszuwerden, als hätte es sich den ganzen Weg über mit hohem Druck angestaut.
Sie fuhren wortlos durch den Wohnbezirk mit seiner Geschwindigkeitsbegrenzung, die ihre Nerven noch einmal auf die Probe stellte. Dann erreichten sie die Hohe Luft-Chaussee und wenige Minuten später auch die Autobahn.
„Niemand folgt uns!“, sagte sie nach einer Weile, zögernd und aufs Höchste erstaunt.
„Was war passiert?“, fragte Louisa, konzentriert auf die Straße starrend.
„Ich hatte das Gefühl, dass jemand da war, aber dann doch wieder nicht. Es ist sehr selten, dass ich mich so täusche, aber es kam niemand und auch jetzt kann ich keinerlei Gefahr in der Nähe aufspüren!“
Louisa warf einen Blick in den Rückspiegel.
„Das ist doch gut, oder?“
„Keine Ahnung. Ich weiß nicht, was es war, es war da.“
„Und wenn es nur ein Echo war, eine Energiespur, die liegen geblieben ist, was weiß ich, jedenfalls etwas, was körperlich wieder weggegangen ist?“
„So stark? Was hast du dir da nur eingebrockt! Es ist wie nicht von dieser Erde, weißt du?“
Louisa biss sich auf die Lippen, während sie wieder in den Rückspiegel sah.
„Ich weiß. Ja, ich weiß es inzwischen.“
Sie schaltete das Radio an.
„… und die Verkehrslage. Im Sendegebiet sind keinerlei Staus gemeldet worden, nur bei der Einfahrt zum Parkplatz … brennt ein Fahrzeug. Vorsicht bitte bei der Einfahrt. Und hier noch eine Vermisstenmeldung: Seit gestern morgen wird Louisa Lohmann vermisst. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch nach einer Familientragödie und danach die Einnahme von lebenswichtigen Medikamenten vergessen. Vermutlich ist sie dadurch geistig verwirrt und orientierungslos. Sie braucht dringend Hilfe. Frau Lohmann ist Anfang zwanzig, hat mittellanges, dunkles Haar und trägt vermutlich Jeans und einen dunkelblauen Pullover. Wenn Sie Frau Lohmann sehen, verständigen Sie bitte die nächste Polizeidienststelle. Und nun die Börsennachrichten, wir schalten um zu Gerald Lüneburg nach Frankfurt. Gerald, wie sieht es heute auf dem Parkett aus …“
Mit einem entschlossenen Ruck schaltete Louisa das Radio aus.
„So eine Frechheit! Orientierungslos! Medikamentenabhängig! Was soll das bloß?“
Karen nickte, mehr zu sich selbst, als ihre Freundin zu bestätigen.
„Hast du das nicht erwartet? Die Wohnung war amtlich versiegelt. Du kannst dir denken, was das bedeutet.“
„Nein. Was meinst du denn?“ Automatisch trat Louisa stärker auf das Gaspedal.
„Dass es eigentlich deine Möglichkeiten übersteigt, was hier passiert. Du wirst nun auch offiziell gesucht. Deine Gegner kontrollieren mindestens teilweise unsere Verwaltung. Vielleicht nur ein wenig, aber es wird genügen.“
„Und was meinst du, was ich tun soll? Mich stellen? Oh, Gott, wenn ich an diesen Geruch denke. Und diese Wand von Bösartigkeit … Das kannst du nicht verlangen!“
„Das tue ich auch nicht. Ich sage nur, dass die Front nun klar ist. Du kannst wirklich nicht mehr zurück. Wenigstens ist die Beschreibung schlecht, danach wird dich keiner erkennen. Und sie haben dein Auto noch nicht wahrgenommen, aber das kann schnell geschehen.“
„Und was ist mit dir? Du riskierst deine ganze Existenz, nur wegen mir!“
Karen lächelte traurig.
„Das ist längst gegessen. Selbst wenn ich dich nicht eingelassen hätte, ich wäre ihnen ins Netz gegangen. Wir hätten nicht zusammen zur Schule gehen sollen, uns nicht befreunden sollen. Es ist Schicksal, Kismet. Zufall, aber das heißt, das Universum konnte nicht anders. Also. Kannst du mal auf den nächsten Rastplatz rausfahren, damit ich deine Tasche auf den Rücksitz stellen kann?“
„Ja. Natürlich!“
Ungefähr fünfzig Kilometer weiter brach Karen wieder das Schweigen.
„Lass uns eine Ferienwohnung auf dem Land suchen. Gut, dass du noch an dein Konto gekommen bist. Gut wäre, wenn ich so schnell wie möglich auch mein Konto leerte. Wir werden es brauchen können! Eine größere Stadt wäre dazu nicht schlecht.“
Es dauerte eine Weile, bis sich eine Gelegenheit dazu bot. Sie bogen nach Heide ab, Karen fand eine Filiale ihrer Sparkasse und kam glücklich wieder heraus.
„Wie gut, dass ich nie überzogen habe. Es war kein Problem, ans Limit zu gehen. Ich habe ihnen gesagt, ich muss ein Auto anzahlen.“
Es hätte ein schöner Ferientag sein können. Die Autobahn verwandelte sich in eine Bundesstraße, die den Neuankömmlingen sofort Disziplin abverlangte. Ein Trecker mühte sich mit einem Anhänger voll hoch getürmter, runder Strohballen nach Hause. Überholen war völlig sinnlos, Die Gegenfahrbahn war voll von rückreisenden Urlaubern. Aber die Sonne überstrahlte alles und lichtete auch die Düsternis, die sich wieder in Louisa breitmachen wollte. Lou schöpfte Hoffnung.
„Meinst du, dass sie uns folgen können?“, fragte sie hoffnungsvoll ihre Beifahrerin.
Karen sah aus dem Fenster, schaute über die weiten saftigen Wiesen. Hier und da lagen wie hingewürfelt scheckige Haufen. Beim Näherkommen erkannte man, dass es Kühe waren, die zufrieden vor sich hin kauten. Diese Bild ließ eine willkommene Ruhe in sie eindringen. Ihre Augen saugten sich am Horizont fest und sie fragte sich, ob es dort sicherer für sie war oder ob sie bis zum Mond würden fliehen müssen.
„Hoffentlich!“, sagte sie bewusst energisch, schon um sich selbst Mut zu machen. „Ich weiß nicht, wie man in solch eine hässliche Geschichte geraten kann. Das macht mir Sorgen. Ich hoffe sehr, dass ich meinen Block auch für solche Leute hochhalten kann. Ich habe ihn nur einmal richtig eingesetzt, vor Jahren, noch in der Schule. Da war ein sehr unangenehmer Junge, der ständig in meinem Kopf herumkramte. Es schmerzte und kratzte unerträglich und er sonderte schleifende Geräusche ab.“
„Was wir brauchen, ist eine Ferienwohnung mit Garage!“, versuchte Louisa das Thema zu wechseln. Sie konnte unmöglich weiter über die Gefahr nachdenken, die über ihnen zu schweben schien, zumal sie auch so wenig darüber wussten. Vielleicht gelang es ihnen, sich eine Weile zu verstecken und dann würde sie niemand mehr suchen. Die Welt war vergesslich.
„Ja, gut!“, pflichtete ihr Karen bei. „Aber es ist noch Saison. Das wird nicht einfach!“
Sie fuhren weiter die Landstraße dahin, mehr oder weniger in Gedanken oder die Landschaft betrachtend. Plötzlich sagte Karen: „Hier, bieg mal hier ab!“
Ein Schild zeigte nach Friedrichstadt, aber dort kamen sie nicht an. Eine Reihe von kleinen Dörfern und einzelnen Höfen durchquerten sie in gemächlichem Tempo, bis ihnen plötzlich ein Schild am Wegesrand auffiel: Ferienwohnungen frei!
„Wenn alles besetzt ist, nehmen sie das Schild rein oder wechseln das Frei-Schild gegen Besetzt aus!“, erklärte Karen. „Lass uns mal fragen! Es fühlt sich gut an! Die Leute haben hier viel zu viel anderes zu tun als Radio zu hören!“
Man hatte zwei Nebengebäude des Bauernhofes als Ferienwohnungen ausgebaut. Eine besonders in den Hüften sehr mollige Frau mit roten Wangen führte sie zu einer Zwei-Zimmerwohnung, die etwas versteckter als die anderen lag. Vor der Wohnung befand sich ein leerer Carport.
„Die Feriengäste hier sind gestern plötzlich ausgezogen. Irgendein Problem zu Hause, sie mussten zurück. Sonst sind wir zu dieser Zeit immer ausgebucht! Wie lange wollen Sie denn bleiben?“
„Mal sehen!“, sagte Karen und wandte sich an ihre Freundin. „Was meinst du? Ich hätte große Lust, mich mal richtig auszuspannen!“ Und zu der Vermieterin sagte sie: „Wie lange ist die Wohnung denn frei?“
„Eigentlich noch eine Woche. Aber in einer anderen Wohnung, da haben sie auch kurzfristig abgesagt. Ich könnte die Zeit auf diese Wohnung hier umbuchen, wenn Sie wollen?“
Louisa begriff. Das war ein Fingerzeig des Himmels, den sie nicht ausschlagen sollten.
„Einen Monat?“, sagte sie deshalb. „Das ist zu schön, um wahr zu sein. Mal richtig nichts tun!“ Sie seufzte lustvoll. „Was kostet es denn?“
„Fünfundvierzig pro Tag, wenn Sie den ganzen Monat haben wollen, mache ich Ihnen einen Sonderpreis. Sagen wir 990,- komplett!“
Die Vermieterin lehnte sich an den Türrahmen und wartete.
„Ich denke, das sollten wir tun!“, erklärte Karen.
„Ja, ich glaube auch!“, stimmte Louisa zu. „Es war irgendwie sehr kurzfristig, aber ich denke, jetzt ist Zeit, mal wieder richtig Kraft zu tanken!“
Sie lächelte der Vermieterin zu. Die nickte.
„Gut, ich mach dann mal die Quittung fertig. Zahlen sie bar?“
Karen sah Louisa an
„Äh, ja, denke schon, nicht war? Wir können ja zusammenlegen, soviel haben wir doch noch, oder? Wo ist hier die nächste Bank?“
„In Friedrichstadt, gar nicht weit.“
Als die Vermieterin gegangen war, fielen sie sich in die Arme.
„Das war super! Wie hast du das gespürt?“, fraget Louisa.
„Einfach so!“, antwortete Karen. „Es fühlte sich gut an!“
„Ja, das ist es wohl auch!“
Eine halbe Stunde später hatten sie ausgepackt, bezahlt und der knallrote Wagen stand unscheinbar im von wildem Wein überwachsenen Carport.
„Meinst du, sie haben unsere Spur verloren?“
Karen drehte den Fernseher leiser.
„Was meinst du?“
„Ich sagte, ob sie eventuell unsere Spur verloren haben! Wir haben zwei Tage keinerlei Nachrichten gehört, die mich betrafen. Oder habe ich etwas versäumt?“ Louisa rührte in der Tasse Tee, die sie sich gerade gemacht hatte. Karen streckte und räkelte sich auf der Couch.
„Nein, ich habe von keinem Sender mehr etwas gehört.“
„Dann lass uns mal einen kleinen Ausflug machen! Wenn wir nur hier herumhängen, ist das sicher auch verdächtig!“
Karen richtete sich auf.
„Hast du einen Inselkoller?“
„Nein, das heißt, ich würde einfach gern mal raus. Ich fühle mich so eingesperrt!“
„Ja, siehst du. Sag ich doch.“
„Geht’s dir nicht auch so? Möchtest du nicht auch mal raus hier?“ Louisa versuchte das Gefühl der Unruhe zu definieren, das sie erfasst hatte. Das machte sie sehr unsicher, aber was wirklich mit ihr los war, wusste nur Lisa.
„Nein, nicht wirklich. Ich bin sehr froh, einmal etwas ausspannen zu können. Ich wünschte, ich hätte so etwas schon früher gemacht!“
„Dann lass mich wenigstens etwas einkaufen fahren!“
„Na schön, wenn du meinst. Aber sei vorsichtig und bleib nicht zu lange!“
„Ich würde gern etwas durch Friedrichstadt bummeln, das Zentrum ist nicht weit vom Supermarkt.“
„Wenn es dich glücklich macht. Ich könnte den ganzen Nachmittag verschlafen.“ Karen gähnte, zog die Decke an sich heran und kuschelt sich ein.
Der Motor sprang sofort an. Natürlich, wie sollte es anders sein, es ist ja ein Neuwagen. Die Landstraße war leer. Bis Friedrichstadt kam ihr ein einziges Fahrzeug entgegen: ein Traktor. Und ein Wagen überholte sie: ein Kleintransporter mit einem Schild an der hinteren Tür: „Gefällt Ihnen mein Fahrstil? Wenn ja, rufen Sie mich an, wenn nicht, dann nicht!“
Louisa lachte leise in sich hinein.
- Ein wenig mehr Spaß täte ganz gut, stellte Lisa fest und Lou summte zustimmend vor sich hin.
Die wenigen Lebensmittel, die ihr einfielen, waren schnell eingekauft. Louisa verstaute sie im Auto, schloss wieder ab und verließ den Parkplatz hinter dem Supermarkt. Wenige hundert Meter entfernt, hinter einem Kanal, den sie „Gracht“ nannten, weil ihn Holländer erbaut hatten, lag das Stadtzentrum. Louisa ließ sich treiben.
Die Eisdiele hatte Stühle und Tische auf den Marktplatz gestellt. Aus dem Standesamt gegenüber trat ein Brautpaar und wurde angemessen fotografiert. Touristen schlenderten die Straßen hinauf und hinunter, betrachteten die Auslagen und kauften ab und zu etwa. Alles war friedlich.
Louisa holte sich eine Eistüte und wanderte langsam einer größeren Gruppe hinterher, die schließlich stehen blieb, um einem Stadtführer zu lauschen. Im Vorbeigehen erfuhr sie einiges über diese Stadt, aber sie musste zugeben, es interessierte sie nicht besonders.
Auch die Auslagen der Geschäfte hatten für sie nur eine Art ästhetischen Wert. Es war schön, zu schauen, aber nichts lohnte sich, zu kaufen. Die Sonne versteckte sich ab und zu hinter einer Wolke, aber es war angenehm warm und Louisa schwang immer mehr hinein in ein Gefühl der Zufriedenheit und Gelöstheit, das sie seit langem vermisst hatte. Niemand beachtete sie, und das war schön.
Souvenirs, Bücher, Handarbeiten und Kunsthandwerk, Krimskrams, Nippes und anderes Verzichtbares, Kuscheltiere und Postkarten. Wem sollte sie eine Karte schreiben? Mäßig interessiert drehte sie den Ständer, in dem sich die vielfältigsten Ansichten von Friedrichstadt und Umgebung in ihre Hand drängten.
Stadtbilder, Land und Meer, Kühe und Schafe, Möwen und Seehunde, Windmühlen in einem Rapsfeld … Louisas Hand verharrte, die Postkarte verschwamm plötzlich vor ihren Augen. Was war das?
Genau dieses Feld hatte sie im Traum gesehen. War es real? Gab es dieses Feld wirklich? Einem plötzlichen Impuls folgend, kaufte sie die Karte. Auf der Rückseite war ein Ort angegeben. Ein Dorf ganz in der Nähe, sie hatte es auf der Karte gelesen. Sollte sie?
Natürlich. Sie musste es. Denn wozu hätte sie von diesem Feld träumen sollen? Oder war es gar kein Traum? Sie würde es herausfinden. Entschlossen steckte sie die Karte in ihre Handtasche.
Auf dem Parkplatz standen jetzt noch zwei rote Autos. Louisa nahm das als gutes Zeichen. Mit leicht zitternder Hand startete sie und ließ den Wagen aus Friedrichstadt hinausrollen. Zone 30 – ganz ruhig. Sie hatte sich vorgenommen, auf keinen Fall durch ein Verkehrsvergehen aufzufallen. Die Landstraße dehnte sich vor ihr her, aber je weiter sie fuhr, desto sicherer wurde sie. Heute war der Tag, den sie lange vorausgesehen hatte. Alles passte zusammen. Es war, als würde sie von unsichtbarer Hand geführt.
Jetzt musste sie rechts ab. Links ging es zur Küste. Nach rechts weiter ins Land hinein. Erwartungsvoll drosselte sie ihr Tempo. Eine große Limousine mit Schleswiger Kennzeichen überholte sie und brauste eilig davon. Sollte er! Wer es heute eilig hatte, war selbst schuld. Erwartungsfroh schaute Louisa nach vorn. Endlos dehnten sich die Felder mit dem sprießenden Roggen. Aber dort! Louisa stockte kurz der Atem. Drei Windmühlen! Ein Rapsfeld! Nun war sie ganz sicher.
Als sie näher kam, bemerkte sie den Haltestreifen. Es überraschte sie nicht mehr, dass dort ein dunkelblauer Wagen stand. Wie in Trance bremste sie, lenkte herüber und blieb dicht hinter dem Fahrzeug stehen. Wie zufällig fiel ihr Blick auf das Nummernschild. Dänische Kennzeichen … das hatte ihr Traum nicht geliefert. Aber für sie war es, als müsste es so sein.
-Wo ist er? - dachte sie. Er muss doch hier irgendwo sein! Jetzt konnte doch nichts mehr verkehrt sein! Alles war richtig, seit sie die Postkarte gekauft hatte!
Verbarg er sich vielleicht in einer Windmühle? Wie gebannt starrte sie von einem der hoch aufragenden Masten zum anderen. Nichts.
Oder war etwas anderes wichtig? Musste sie zuerst etwas tun? Einen Zauberspruch aufsagen, etwas die Wolken verschieben, damit ein Sonnenstrahl sie traf?
Jetzt fiel es ihr ein. Das Bild war sehr genau. Sie hatte im Rapsfeld gestanden, mitten drin zwischen den betäubend duftenden gelben Blüten. Das war es. Sie stellte die Situation in der Realität nach. Rings um sie her leuchtete hell. War es die richtige Zeit? Sie musste warten. Konzentriert beobachtete sie die schlanken Türme, die in den Himmel strebten. Oben war ein Brummen und Sausen, genau wie sie es schon einmal gehört hatte. Da, fast hätte sie es übersehen, öffnete sich eine Tür am Fuße der am nächsten stehenden Windmühle. Er Mann kam heraus, Lou zitterte und Lisa war ganz sicher. Er winkte.
Sie winkte zurück.
Mitten im Feld trafen sie aufeinander, zwei Statuen in einem Meer von Gelb und Grün, so standen sie. Sie stockte, er kam näher.
„Ja!“, dachte sie. „Komm näher! Ich will dich sehen. Ich will sehen, ob ich recht hatte. Ob du genau so aussiehst, wie in meinem Traum!“
„Natürlich!“, antwortete er. „Ich träumte auch. Ich träumte, ich sei wieder ein Mensch. Ein Mensch, der träumte. Und er träumte, er sei ein Schmetterling.“
„Und er flog durch eine blühende Landschaft, und da waren ein Rosenstrauch und eine Bank.“
„Aber es geschah das Wunder. Der Schmetterling träumte, er sei ein Mensch.“
„ … der träumte, er sieht einen Schmetterling.“
„ … und der Schmetterling setzte sich auf seine Schulter und legte seine Flügel zusammen.“
Sie setzten sich auf die Bank, beide, Hand in Hand, Auge in Auge, Haut an Haut. Dann schauten sie in die Landschaft. Ihre Landschaft.
„Ich habe mein Auto bekommen. Es ist wirklich rot.“
„Man kann es gut sehen. Alle sehen es. Wir sollten es stehen lassen. Hier, an dieser Stelle. Das gibt Rätsel auf.“
„Nein. Ich habe so lange darauf gewartet, bis es endlich kam. Aber es ist so viel geschehen.“
„Viele Dinge mussten geschehen. Und sie liegen auch noch vor uns.“
„Ich habe Angst.“
„Ich bin da. Wir sind zusammen. Wir halten stand.“
Das Schweigen kreiste sie ein, stand fühlbar neben ihnen und berührte sie mit kühlem Schauer.
Warum öffnet er nicht seine Arme? fragte sie sich. Er muss es tun, jetzt – so ist der Plan.
Die Unwägbarkeit zuckte wie ein dunkler Schatten durch ihre Landschaft.
Da tat er es. Louisa begann zu zittern. Da war der Moment. Es war nicht zu verhindern. Es war wirklicher, als sie gedacht hatte.
Sie musste sein Herz spüren, ob es auch so klopfte wie ihres.
Mit einem Ruck riss sie seine Windjacke auf, presste ihr Ohr an seine Brust. Ja, da war dieses Klopfen, dieses Hämmern, als ob etwas nach draußen wollte, zu ihr, die sie auch zu ihm wollte. Aber sie waren doch schon aneinander. Miteinander. Ineinander? Fühlte man das nicht? Nein, noch nicht. Sie öffnete ihre Bluse. Näher. Es musste genau gespürt werden. Aneinander, zusammen, ineinander. Wie war es richtig?
Denn dass es richtig war, richtig sein musste, daran bestand kein Zweifel. Sie hatte es schon durchgespielt, in ihrem Traum, in ihrer Landschaft, immer in sich. Es war nichts neues, wenn sie ihn nun auch in der Wirklichkeit des Feldes hereinholte. Und er musste eindringen, um die letzten Schatten ihrer bösartigen Bedrohung zu vertreiben.
Und da reagierte auch der Körper. Die Botenstoffe jagten durch alle Regionen, fast wurde ihr schwarz vor Augen, aber da war noch ihre Landschaft. Dort strahlte die Sonne und auch dort stand er. Das war so neu. Sich dort zu umarmen, wo der schwarze Fleck gewesen war. Ihn auszuwischen, zu überstrahlen, darauf herabzuglänzen, ihn zu übersprudeln, sich hingeben, alles umschlingen und verschlungen werden, in allem zu sein, gleichzeitig, vorher, nachher, immerdar, das war die Lösung.
Der Raps wogte, ein gelbes Meer der Fruchtbarkeit, des Lebens und der Freude. Die Stängel knickten ein, brachen in wilden Fluten zur Seite und die Blüten schrieen ein letztes Mal, außer sich vor Farbe, bevor sie zerquetscht im Ackerboden Ruhe fanden. Der Himmel explodierte in einem Regen greller Träume. Die Universen kreisten um sich selbst, bevor sie der großen Fülle des Nichts Platz machten.
Dann war es warm und die Sonne leuchte freundlich herab, während die Erde in ihr, über ihr und unter ihr nachbebte. Ihre Landschaft aber strahlte, wie sie es noch nie getan hatte.
„Er heißt Robert!“, frohlockte Lisa.
„Ja“, sagte Lou. „Das weiß ich doch.“
Eine Weile später hörte sie seine Stimme. Es war merkwürdig, wie sie innen und außen zugleich klang. Außen mit leichtem dänischem Akzent.
„Mein Vater macht mir die Hölle heiß, wenn ich heute Abend nicht zurück bin. Er wollte mir keinen Urlaub geben.“
Ein eisiger Windhauch durchstreifte ihre Landschaft.
„Ich komme mit!“
„Ich hoffe, du bringst dich nicht in Gefahr.“
„Nicht mehr, als ich schon bin!“, sagte Lisa vor. „Ich muss nur meiner Freundin Bescheid sagen!“
„Ja. Wir werden sie mitnehmen müssen. Sie ist auch im Feld.“
„Warum bekommst du keinen Urlaub? Ruf doch mal an, es muss doch möglich sein …“
„Wir haben eine Störungsserie. Wenn wir nicht rauskriegen, woran es liegt, verlieren wir einen großen Kunden. Und wir haben niemanden frei, der sich mit den Generatoren so auskennt wie ich.“
Louisa nickte.
Eine gute Stunde später waren sie auf dem Weg nach Kopenhagen.